Montag, 24.06.2019 / 21:33 Uhr

Eine osmanische “Ohrfeige”, mit kurdischem Hall!

Von
Silas Gudea, Istanbul

Nein, es war kein Wahlkrimi, der gestern mit der Schliessung der Istanbuler Wahllokale um 17.00 Uhr das wahrscheinliche Ende der erdoğanschen Alleingänge in der Türkei eingeläutet hat. Nach der Annulierung der Istanbuler OB-Wahl vom 31. März, die mit der fadenscheinigen Behauptung es habe “massive Wahlmanipulationen” gegeben, begründet wurde, war es an der Zeit, der selbstherrlichen und aggressiven Politik Recep Tayyip Erdoğans, eine plebiszitär forcierte “osmanlı tokatı”, resp. osmanische Ohrfeige zu verpassen. Nicht wortwörtlich, sondern mit dem Rest an pluralistisch-demokratischer Freiheit, per Wahlzettel. Warum es kein Wahlkrimi war, obwohl die Anspannung der Istanbulerinnen und Istanbuler förmlich greifbar in der Luft lag? Weil der Wahlbetrug, den die AKP der oppositionellen CHP vorwarf, von ihnen selbst begangen wurde. Wie sonst soll man sich den gestrigen deutlichen Stimmenzuwachs von neun Prozent erklären?

 

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Schon vor dem Wahltag war klar, dass die Willkür, gepaart mit weiterer Hassrhetorik, mit der Recep Tayyip Erdoğan die Annulierung durchgeboxt hatte, selbst der AKP-Stammwählerschaft zuviel geworden war.

Selbst einstige cut-throat Hochburgen der AKP, vor allem Kasımpaşa und Fatih, sind an die Opposition gegangen.

Die zahlreichen Meinungsforscher der AKP hatten als Fazit aus der knappen Wahlniederlage der ersten Wahl, zu einer “Mässigung der Zungen” in den öffentlichen Medien und Debatten gemahnt. Offenbar ist dieser konstruktiven Kritik nicht der entsprechende Wert aus Ankara beigemessen worden.

Die Spaltung der türkischen Zivilgesellschaft in geliebte und gelobte “Davacı” und in das von Recep Tayyip Erdoğan, je nach Gusto und tagesaktuellem Befinden verhasste und geschasste Lager der “Anderen / Ungläubigen”, muss offenbar in den innersten Kreisen der AKP, und erst recht bei den vermeintlichen “Lebensmittel-Terroristen” auf Ablehnung gestossen sein. Diese Kategorisierung hatte die ohnehin auf das fragilste angespannten Bande in vielen türkischen Familien, die zwischen CHP und AKP zerworfen sind, vor eine, im schlimmsten Falle, fatale Zerreisprobe gestellt.

 

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(Bildquelle: Wikipedia)

Seinen mittlerweile zur persönlichen Dava mutierten Streit gegen den Rest der Welt, mit der Recep Tayyip Erdoğan die türkische Bevölkerung zu impfen versucht, wurde an einem besonders interessanten verbalen Ausrutscher, der ihm bei einer Ansprache vor Schülerinnen und Schülern der staatlich-religösen Imam Hatip Schulen aus dem Munde entglitten war, deutlich. Kurz nach der Wahl vom 31. März sagte Erdoğan, dass seine Dava von 1.000.000 Schülerinnen und Schülern der religiösen Imam Hatip Schulen, die unter seiner persönlichen Patronage stehen, angetrieben und in Zukunft ausgefochten würde. Das muss gewiss vielen seiner religiös-konservativen Stammwählerinnen und Stammwählern mit Befremden aufgestossen sein. Ungefragt und ohne jegliche Befugnis und Erlaubnis hundertausender Eltern, wurde ihnen mit einem Schlag bewusst, dass sich der türkische Staatschef anmasst, ihre Kinder seinen persönlichen Allmachtsphantasien zu opfern.

Ist es nicht die Aufgabe der Schulen, auch wenn es sich um die religiös fundierten Imam Hatip Schulen handelt, aus unmündigen Kindern, verantwortungsbewusste, mündige und erwerbsfähige Bürgerinnen und Bürger, zum Wohle der türkischen Zivilgesellschaft zu erziehen und nicht, wie von den sogenannten Davacis verlangt, opferbereite Gotteskrieger für die pan-islamistische Missionierungsarbeit der türkischen Ikhvan (Muslim Bruderschaft) bereitzustellen? Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Wahlbotschaften des AKP Kandidaten Binali Yildirim, die sich in ihren Inhalten vor allem an die jungen Wählerinnen und Wähler richteten, mit der Forderung Tayyip Erdogans nach neuen Rekrutinnen und Rekruten für seine Dava kollidiert sind. Binali Yildirim versprach, u.A. dass jedem immatrikulierten Studenten, monatlich zehn Gigabyte kostenlose Internetnutzung zur Verfügung gestellt würden, dass der Besuch der städtischen Museen und Theater frei von Kosten und dass die Sportstätten der Istanbuler Gemeinden beitragsfrei genutzt  werden dürften...usw, usw.

Der Auftrag der Istanbuler Wählerinnen und Wähler an Ekrem Imamoglu ist, dass das Leben in der Metropole Istanbul wieder mit versöhnlicher Rhetorik und freundlichen Gesten, die den Frieden in der Stadt und im Lande stärken, auffallen muss.

Dieses komplett widersprüchliche Versprechens-Absichts-Ratatouille an die Jugend, in dessen Kernaussage sich die innere politische Perspektivlosigkeit der AKP wiederspiegelt, hat folgerichtig zum völlig vedienten Absturz der AKP in Istanbul geführt. Selbst einstige cut-throat Hochburgen der AKP, vor allem Kasımpaşa und Fatih, sind an die Opposition gegangen. Seitdem die Urlaubsbuchungen westlicher Touristen nach Istanbul fühlbar und sichtbar abgenommen haben, hat sich auch der Unmut über diesen misslichen Zustand in diesen Vierteln der Stadt, die auf Einkünfte aus dem Schiffstourismus angewiesen waren und auch weiterhin angewiesen sind, breitgemacht.

Den seit einigen Jahren anhaltenden Ärger der vielen Bazaaris, Restaurantbesitzer, Hoteliers und Souvenirhändler am historischen Spot Istanbuls, hat auch die von der AKP werbeträchtigst ausgeschlachtete Ankerung eines fetten Ozeandampfers am Goldenen Horn vor einigen Wochen, wenig Mut und Hoffnung auf bessere Tage bereitet. Solange der Hafen in Karaköy für das Andocken der grossen Passagierschiffe nicht niet- und nagelfest steht und in Betrieb gegangen ist, wird sich an dem Unmut der Geschäftsleute im alten Istanbul nichts ändern.

Fazit:

Der Auftrag der Istanbuler Wählerinnen und Wähler an Ekrem Imamoglu ist, dass das Leben in der Metropole Istanbul wieder mit versöhnlicher Rhetorik und freundlichen Gesten, die den Frieden in der Stadt und im Lande stärken, auffallen muss. Die türkische Wirtschaft muss das Vertrauen ihrer westlichen Partnerinnen und Partner wiedergewinnen, um die weiterhin grassierende Jugendarbeitslosigkeit zu stoppen. Das hat der CHP-Kandidat und erneute Wahlsieger folgerichtig in seiner Rede betont. Er sei der Oberbürgermeister aller Menschen seiner Stadt. Einen besonderen Dank an die kurdische HDP und ihren weiterhin inkarzerierten Ex-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, gab es jedoch nicht, obwohl diese Wählerstimmen den Triumph der CHP gesichert haben.

Den sowohl innenpolitisch als auch aussenpolitisch völlig unkalkulierbaren Kurs, in den Recep Tayyip Erdoğan das Land im Rahmen seiner Dava gelenkt hat, muss er zugunsten eines Re-routing in überschaubare und manövrierbare  Fahrwasser ändern, denn das ist die Forderung der türkischen Bevölkerung und somit wichtigste Hausaufgabe Ankaras. Die Amtsgeschäfte der Stadt Istanbul zu führen, ist der Job Ekrem Imamoğlus. Sollte sich Ankara in den kommenden Wochen und Monaten über diese Verteilung der Ressorts erneut hinwegsetzen, dann wäre man laut Murat Yetkin (Chefredakteur Hürriyet Daily News), und anderer kritischer Journalistinnen und Journalisten, mit der Ausrufung einer vorgezogenen Neuwahl des türkischen Präsidentenamtes am besten beraten.