Mittwoch, 16.10.2019 / 20:54 Uhr

Ein syrisches Verhängnis: Obamas und Trumps Antiimperialismus

Von
Oliver M. Piecha

 

Die USA schicken weitere Truppen in den Nahen Osten.  Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Allerdings werden die zusätzlichen 3000 Mann in Saudi-Arabien stationiert, und das zahlt dafür cash, wie der amerikanische Präsident stolz erklärt hat.

Offensichtlich kann man die US-Army mittlerweile mieten. Da ist es offensichtlich auch egal, ob die Saudis die USA bei der Landung in der Normandie im Zweiten Weltkrieg unterstützt haben oder nicht. Das absurde Argument , die Kurden hätten eben jenes nicht getan, man habe deswegen keine Verpflichtungen ihnen gegenüber, war nur der Beginn einer Reihe von Bemerkungen Donald Trumps zur nordsyrischen Katastrophe, von denen man nie genau weiß, was an ihnen kalkuliert zynisch ist, und was sein authentisches Weltbild widerspiegelt. Aber vermutlich ist die Frage einfach obsolet.

Einen tieferen Abgrund, in den ein westlicher, demokratisch gewählter Spitzenpolitiker mit ausgestrecktem Mittelffinger mit düsterem Grinsen springen könnte, gibt es eigentlich nicht

Die Flucht der kurdischen PYD ins Lager Putins und Assads vor den türkischen Invasion kommentiert der US-Präsident zufrieden per Twitter mit dem Hinweis, „Assad und Syrien“ sollten die Kurden beschützen und für ihr Land gegen die Türkei kämpfen.  Ersteres kann man angesichts eines Diktators, der Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzt und über Hunderttausend Menschen einfach hat verschwinden lassen, gar nicht ernsthaft abwägend kommentieren.

Ein Getriebener

Einen tieferen Abgrund, in den ein westlicher, demokratisch gewählter Spitzenpolitiker mit ausgestrecktem Mittelffinger mit düsterem Grinsen springen könnte, gibt es eigentlich nicht. Der zweite Teil seines Satzes  ist dann wieder so wirr wie die Entscheidung, dem türkischen Präsidenten den Einmarsch in das syrisch-kurdische Gebiet erst zu ermöglichen, um kurz darauf, nachdem selbst enge Unterstützer entsetzt waren, mal eben so anzukündigen, bei Bedarf umgehend die türkische Wirtschaft zerstören zu können. Und nun, nachdem die türkischen Panzer losgerollt sind,  befreite Anhänger des Kalifats umherirren und russische Soldaten neugierig die fluchtartig verlassenen amerikanischen Unterkünfte durchstöbern, verhängt er Sanktionen gegen den Nato-Alliierten. Eines ist sehr offensichtlich: Donald Trump ist ein Getriebener, seine Entscheidungen zum Nahen Osten, von denen ungeheuer viele Menschenleben und Schicksale abhängen, sind im Konkreten bloß stimmungsmäßig bedingt. So buchstabiert sich Unverantwortlichkeit.

Bildergebnis für us withdrawal syria

(Quelle: Army.mil)

 

Letztlich ist es müssig, immer wieder auf Donald Trumps verstörende Idiosynkrasie hinzuweisen. Sein Wahnsinn hat außerdem Methode, jedenfalls was den Nahen Osten angeht. So konfus und zufällig seine Entscheidungen im Augenblick sind, so ist doch klar, was er eigentlich will. Trump hätte die US-Soldaten am liebsten schon Anfang des Jahre abgezogen. Für ihn liegt diese Weltregion und die syrisch-türkische Grenze „7000 Meilen weit weg“ und wer immer die Kurden beschützt, ob „China. Rußland oder Napoleon Bonaparte“ ist ihm herzlich egal. Amerikas Fehler sei es gewesen, jemals in diese „lächerlichen endlosen Kriege, viele von ihnen Stammeskriege“ einzugreifen. Er wird mit solchen Ansichten vermutlich viele seiner Wähler ansprechen, und macht dabei ein ums andere mal deutlich, dass er den Rückzug Amerikas als politischen und militärischen Garanten einer universalen Weltordnung, die man einmal als „westlich“ benannt hat, brachial forcieren will.

Traum von Antiimperialisten wird wahr

Donald Trump macht wahr, wovon Antiimperialisten immer geträumt haben. Dass es dabei nun ausgerechnet das letzte große internationalistische Hoffnungsprojekt „Rojava“ trifft, ist mehr als ein schlechter Witz der Weltgeschichte. Es ist eine zu späte Erinnerung daran, dass es in einer Welt ohne als gültig akzeptierte universale, „westliche“ Werte – so verlogen auch oft der Umgang mit ihnen war  – auch keine Instanz mehr gibt, an die man zu ihrer Einhaltung moralisch appellieren könnte. Donald Trump war mit seiner Entscheidung – oder wie nennen wir es besser, Impuls? Eingebung? Laune? –  der Türkei für ihre Invasion die Tür zu öffnen nur konsequent. Trump steht das Wasser bis zum Hals, und falls die kommenden Ereignisse ihn mitreißen werden, nun, im Angesicht des erwartbaren Impeachment-Verfahrens sind die wildesten Wasserstrudel sowieso sein bester Schutz.

Neue Flüchtlinge

Auch für die Menschen im Norden Syrien ist es soweit: Wer hier bisher dem Krieg einigermassen entkommen ist, wird nun in den Fleischwolf gestopft werden. Dabei sind die kurdischen Gebiete sowie die vom „Islamischen Staat“ befreiten arabischen Zonen in Ostsyrien nur ein Teil der Verhandlungsmasse, die Trump mit Desinteresse zur Verteilung freigegeben hat: Das Schicksal des Gebietes um Idlib mit potentiell bis zu drei Millionen Flüchtlingen hängt ebenfalls daran, sowie die Millionen von Syrern in der Türkei, mit denen Erdogan im Rahmen einer gigantischen ethnischen Säuberungsaktion – nichts anderes stellt sein vor der UN-Vollversammlung präsentierter Plan dar – die türkisch-syrische Grenze mit ihren kurdischen Siedlungsgebieten arabisieren will. Aber das ist bloß das ferne Bild einer Zukunft, von deren Gegenwart momentan niemand weiß, wie die Lage auch nur in drei Monaten aussehen wird – außer dass es noch mehr Flüchtlinge, noch mehr Tote und noch weniger sinnvolle Lebensperspektiven in der Region geben wird.

And the winner is

Der Gewinner im ganzen Chaos steht fest: Putin. Tatsächlich hat er den machtpolitischen Gipfel im Nahen Osten erklommen. Putin hat den amerikanischen Präsidenten als nahöstliche Letztinstanz beerbt. Das ist beeindruckend. Als Russland 2015 in Syrien eingriff, konnte man das noch als wahnwitziges Unternehmen abtun. Würde Rußland nicht ebenfalls bald im nahöstlichen Treibsand rettungslos feststecken? Was ist da eigentlich passiert? Ist eine Antwort womöglich die Kaltblütigkeit, mit der Putin Gewalt einsetzt? Mit der er Hospitäler und Zivilisten bombardiert und damit eine Sprache spricht, die von den regionalen Akteuren ohne Übersetzungsprobleme intuitiv verstanden wird?

Putins Reich ist der Aufguß eines uralten imperialen Teesatzes – aber bis jetzt funktioniert es. Hat das primär überhaupt etwas mit Ökonomie zu tun? Der neue russische Imperialismus im Nahen Osten stellt frische Fragen an ein abgegessenes Forschungsfeld.  Jedenfalls: Ohne Putin geht nichts mehr. Die Verhandlungen zwischen kurdischer PYD und syrischem Regime werden auf der russischen Luftwaffenbasis Hmeimim geführt. Gerade weilt er im saudischen Riad, er ist der Mann, mit dem man momentan im Nahen Osten reden und rechnen muss. Das gilt aber keineswegs für Baschar Al-Assad; auch wenn der nominelle syrische Präsident wieder einmal ohne eigenes Zutun zum Sieger erklärt werden könnte, sollen seine Elitetruppen doch nun in das kurdische Gebiet vorrücken. Aber wieviele eigentlich und wohin genau? Assads Armee hat mehr russische Panzer als loyale Syrer, die sie fahren könnten.

Assad ist kein Gewinner. Er ist ein Überlebender.

Der syrische Präsident hat dank russischer und iranischer Hilfe diesen Konflikt bisher überstanden. Aber mit einer Rückkehr an die syrisch-türkische Grenze im kurdischen Gebiet würde ein grundsätzliches Problem für Assad nur verschärft werden: Weder kann er das syrische Staatsgebiet mit seiner Armee kontrollieren, noch hat das Regime irgendwelche Ressourcen für den Wiederaufbau. Es wird so gerne missverstanden: Assad ist kein Gewinner. Er ist ein Überlebender.

Aufgeschreckte Europäer

Wahrscheinlich gab es vor der Invasion bereits eine grundsätzliche Verständigung zwischen der Türkei und Russland über die Kontrolle Nordostsyriens. Die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen dem Regime und den Kurden unter Oberaufsicht der Russen sind bisher noch nicht ganz deutlich geworden, vor allem ist die Frage offen, inwieweit die Kurden noch etwas anzubieten haben, und sich nicht einfach werden unterwerfen müssen. So könnten die kurdischen Kämpfer der YPG offiziell in die syrische Armee integriert werden, genauer in den Teil, der unter direkter Kontrolle Russlands steht. Die kurdisch-arabische SDF („Syrian Democratic Forces“), geschaffen von den USA zur Bekämpfung des „Islamischen Staates“, würde aufgelöst.

Trumps Rückzug aus Syrien lässt die Europäer so nackt aussehen, wie sie auch wirklich in der Gegend herumstehen und die Hintergrunddekoration für diesen Konflikt bilden.

Wie weit die Vereinbarungen gehen und was davon zum Tragen kommt, muss sich erst zeigen, auch ob die von den plötzlich aufgeschreckten Europäern  befürchteten Kämpfe zwischen der türkischen Armee und Assads Truppen wirklich drohen – und damit potentiell ein NATO- Bündnisfall. Oder ob Spannungssituationen zwischen syrischer und türkischer Armee nicht doch nur Scheingefechte von Partnern unter russischer Führung sind, die sich über ihren Profit längst grob geeinigt haben.

Nackt

Die Europäer stehen den neuesten Ereignissen in Syrien natürlich hilf- und machtlos gegenüber. Wie auch anders? Man hat sich 2011 entschieden, nicht einzugreifen und ist voraussehbar ein Objekt der regionalen Akteure im Nahen Osten und Rußlands geworden, die keinerlei Skrupel empfinden, ihre machtpolitischen Ambitionen auszuleben. Die Entscheidungen oder vielmehr Nichtentscheidungen der EU rund um den Konflikt in Syrien sind wie ein fortwährendes Tönen: Man-hätte-es-wissen-können.

Trumps Rückzug aus Syrien lässt die Europäer so nackt aussehen, wie sie auch wirklich in der Gegend herumstehen und die Hintergrunddekoration für diesen Konflikt bilden. Die Europäer? Es ist doch deren „neighbourhood“ sagt der amerikanische Präsident und verweist damit auf eine geographische Realität, deren machtpolitische Konsequenz einem Trump allerdings im Gegensatz zu europäischen Öffentlichkeit offenbar durchaus klar ist. Die Antwort der EU? Wird es eine geben? Die Spanier haben auf ihrem offiziellen Nato-Twitteraccount die Türkei zu ihrer Invasion im Vorfeld schon einmal beglückwünscht (mittlerweile gelöscht?). Wie laut wird wohl das Murmeln der Europäer werden, wenn man ihnen mit Flüchtlingen droht?

Ende der Free Syrian Army

Ein erstes Ergebnis des türkischen Einmarsches, der ja maßgeblich mit syrischen Söldnern stattfindet, formuliert der renommierte Nahostanalyst Hassan Hassan:

„Manche mögen das vielleicht nicht hören wollen. Die türkische Operation markiert das absolute und unbestreitbare Ende von allem, was sich früher als freie syrische Armee oder Mainstream-Opposition bezeichnet hat. Syrien ist jetzt vollständig unter ausländischer Kontrolle und die bewaffneten Gruppen hängen entweder extremistischen Ideologien an oder bestehen aus Söldnern.“

Vielleicht war es einfach an der Zeit, dass dies endlich so deutlich wird. Die gerade stattgefundene Umbenennung der traurigen Reste der Freien Syrischen Armee (FSA) in „Nationale Armee“ war nur der Abschluss dieses Prozesses. Diese „Nationale Armee“ besteht de facto aus Söldnern mit zum Teil islamistischer Provenienz, die von der Türkei bezahlt werden. Aber das ist nicht Schuld der Syrer. Es gibt keine organisierten Syrer mehr, die unabhängig  syrische Interessen vertreten könnten. Syrien erstickt im imperialen Würgegriff. Der Todeskuss des Regimes aus Damaskus verspricht den Kurden im besten Fall das langsame Ersticken. Erdogans Islamisten exekutieren derweil Kurden am Straßenrand.

Die Schuldfrage

Es bleibt die Diskussion über die Schuld an alldem. In die Wut über Trumps rigorosen Irrsinn hat sich wohlfeiles Geheul gemischt, von ehemaligen Akteuren, die ihre eigene Rolle gerne vergessen machen möchten. Zentrale fatale Weichenstellungen fallen dabei in die Amtszeit Barrack Obamas: Der Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Irak 2011; der Toleranz gegenüber der iranischen Machtpolitik im Zeichen eines sehnlichst gewünschten Atomabkommens; die lange Ignoranz gegenüber dem Entstehen des “Islamischen Staates“ und einer sektiererischen, schiitisch dominierte Politik, der man nicht entgegengetreten ist; die auch westliche Überlebenshilfe für das Assad-Regime trotz Giftgaseinsatz und Fassbombenterror. Zu dem Vermächtnis Obamas gehört auch das von der Türkei aufgrund ihrer Staatsräson von Anfang an deutlich gemachte Veto, auf syrischem Gebiet keinen PKK-Teilstaat dulden zu können.

Obama und Trump, ein fieser Abgesang auf das Zeitalter des Westens waren beide.

Im Zeichen des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ haben das alle geflissentlich ignoriert. Solche Widersprüche wurden  im Zuge der hektischen Entscheidungsfindung nach dem Siegeslauf des islamischen Staates 2014/15 einfach beiseite gewischt. Man hätte diese Widersprüche irgendwann direkt angehen müssen, aber dafür hätten die USA in Syrien irgendetwas wollen müssen – jenseits des möglichst schnellen und möglichst delegierten Kampfes gegen den „Islamischen Staat“, für den die Aliasorganisationen der PKK sich willig angeboten haben. Beide Seiten haben sich da etwas gewünscht, die einen für die Zukunft, die anderen nur für die Gegenwart. Dabei hat man so getan als gäbe es kein Danach. Nun hat sich herausgestellt: Die kurdischen Kämpfer wurden im Krieg gegen den Islamischen Staat verheizt. Der Ausdruck aus dem Landser-Jargon passt perfekt. Und egal, wie man die PKK oder „Rojava“ bewerten mag – was hier gerade passiert ist ein erneuter Todesstoß gegen den Versuch, für Syrien so etwas wie eine Zukunft denkbar zu machen.

"Syrer" Synonym für Flüchtling

„Syrer“ wird so zum Synonym für Flüchtling, und der dauerhafte syrische Flüchtling wird zum nervigen Ballast, in dessen Namen man schließlich Krieg führt, um weitere Flüchtlinge zu produzieren, wie die Türkei gerade. Aber auch hier gilt: Angefangen hat das 2012 mit dem Beginn des Einsatzes der syrischen Luftwaffe gegen Zivilisten. Angesichts der Flüchtlinge, die das Regime in Damaskus mit diesem Konflikt mittlerweile produziert hat, wäre jeder extrem blutige Regime Change angemessen gewesen. Wir reden über Millionen von Menschen, deren Leben direkt betroffen ist. Syrien ist ein Verhängnis total gescheiterter internationaler Politik. Trump ist dabei bloß ein schriller Konkursverwalter. Die Kosten für diese Art von kurzsichtiger Politik, die immer nur auf die Versäumnisse reagiert, sind unmenschlich. Es ist ein grauenhaftes Spiel, und es wäre fairer gewesen den Syriern 2011 zu sagen: Bleibt still, geht nach Hause, beugt das Haupt, man kann alles mit euch machen und niemand wird euch helfen.

Jetzt ist das Desaster permanent geworden und für die einen geht es längst um die Geschichtsschreibung, und wie sie ihr Nichtstun historisch verkaufen können, für die anderen ist immer noch nicht klar, ob heute noch eine türkische Bombe auf sie fällt, oder unter welcher perspektivloser Herrschaft sie morgen dahinvegetieren müssen.

Das Erbe Obamas

Donald Trump kann man kann man viel vorwerfen, aber er hat ein völlig verfahrenes Syrienszenario von seinem Amtsvorgänger geerbt. Barack Obama, der Friedensnobelpreisträger,  hat während seiner Amtszeit acht Jahre lang peinlich genau darauf geachtet hat, im Nahen Osten seine eigenen persönlichen roten Linie nicht zu überschreiten. Egal, wie hoch die menschlichen Kosten dafür waren. Trump ist ein übler Faktor, aber er poltert nur in den waste lands herum, die Obama im Nahen Osten ungehindert hat entstehen lassen. Und immer deutlicher und unbarmherziger reift die Erkenntnis:  Der Abzug der USA als zentrale imperiale Macht verändert alles. Die EU zieht bedeutungslos am Wegesrand Grimassen. Der Syrer ist der Flüchtling. Und Putin der neue Zampano. Okay, Trump wird mit Sicherheit keinen Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Aber nach Obama wäre auch das egal. Obama und Trump, ein fieser Abgesang auf das Zeitalter des Westens waren beide.

Überarbeitete Version eines Beitrags, der zuerst auf Mena-Watch erschienen ist.