Mittwoch, 30.10.2019 / 20:25 Uhr

Syrische Flüchtlinge im Nordirak: Es fehlt an allem

Von
Gastbeitrag von Andreas Stahl

Im Zuge des türkischen Militärangriffs auf die kurdisch verwalteten Gebiete in Nordsyrien fliehen immer mehr Menschen in den Nordirak. Suzn Fahmi arbeitet für das Jinda-Zentrum in Dohuk, das sich für ezidische Mädchen und Frauen einsetzt, die dem IS entkommen konnten, und eine enge Partnerorganisation von Wadi in Dohuk ist. Zudem ist sie Koordinatorin der international tätigen britischen Hilfsorganisation „Khalsa Aid“ im Irak und momentan im nordirakischen Flüchtlingscamp Bardarash tätig. Andreas Stahl hat mit ihr über die Situation der Flüchtlinge vor Ort gesprochen.

 

Guten Tag Frau Fahmi, wie lässt sich die Situation an der syrisch-irakischen Grenze zurzeit beschreiben?

Suzn Fahmi: Momentan kommen nach wie vor Flüchtlinge an. Aber die Zahl hat sich verringert. Beispielsweise waren es letzte Woche täglich 1.200 bis 1.300 Menschen. Vergangenen Samstag und Sonntag hingegen kamen nur noch 300 bis 400. Die meisten von ihnen kommen aus Rojava, hauptsächlich aus Sari Kani und Qamischil. Viele haben Familienmitglieder bei Bombardements verloren, vor allem diejenigen aus Sari Kani. Medial wird darüber allerdings viel zu wenig berichtet. Zudem erzählten mir mehrere Menschen an der Grenze, dass sie für ihren Grenzübertritt Geld zahlen mussten.

Wie werden die Menschen untergebracht?

Suzn Fahmi: Momentan stehen für die syrischen bzw. kurdischen Flüchtlinge aus Rojava zwei Flüchtlingscamps zur Verfügung. Das Camp in Bardarash, in dem am Samstag noch Flüchtlinge gebracht worden waren, ist seit Sonntag völlig überfüllt. Dort leben nun mehr als 2.500 Familien und insgesamt knapp 11.000 Menschen. Es ist noch nicht ganz klar, wie viele Frauen, Männer und Kinder jeweils hier sind, aber nach meinem Eindruck ist die Anzahl der Kinder hoch, sehr hoch. Im Camp Gawilan sind darüber hinaus weitere rund 80 Familien und insgesamt knapp 400 Menschen untergebracht.

 

 

Mit wie vielen weiteren Menschen rechnen Sie in den nächsten Tagen?

Suzn Fahmi: Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte sein, dass in den nächsten Tagen mehrere hundert oder tausend Menschen folgen werden.

Wie ist die Situation im Camp Bardarash, in dem Sie derzeit arbeiten?

Suzn Fahmi: Die Situation ist nicht gut. Es gibt seit einer Woche kein Trinkwasser mehr, weil das Camp seit zwei Jahren nicht mehr genutzt worden ist. Zu dem Zeitpunkt, als die Menschen hier ankamen, stand das Camp vollkommen leer. Khalsa Aid hat daher Lastwagen mit Wassercontainern zur Verfügung gestellt, um die Menschen im Lager mit Trinkwasser zu versorgen. Viele der Menschen befinden sich psychisch in sehr schlechtem Zustand. Es handelt sich also um eine wirkliche Notlage.

Steht den Menschen denn psychologische Hilfe zur Verfügung?

Suzn Fahmi: Nein, es werden bloß diese unnützen Begutachtungen angestellt. Ungefähr sieben große NGOs beschäftigen sich ausschließlich mit diesen Einschätzungen der Camps und unternehmen sonst nichts.

Um welche Art von Begutachtungen handelt es sich dabei?

Suzn Fahmi: Es gibt verschiedene Arten von Begutachtungen, die keinen direkten Nutzen haben. Beispielsweise wird gezählt, wie viele Kinder unter 18 im Camp sind. Dabei denkt man sich: „Ok, ihr fertigt diese Gutachten an, aber ihr helft den Kindern nicht. Dort leben Kinder ohne Milch, ohne Wasser, ohne alles. Und ihr tut nichts außer Gutachten erstellen?“ Die NGOs haben auch nicht den Plan, ihnen anschließend sauberes Wasser, Milch oder irgendetwas anderes zu geben, das dringend gebraucht wird. Es ist sehr frustrierend, dass diese großen NGOs mit so viel Geld so wenig tun.

 

Welche Probleme herrschen darüber hinaus im Camp?

Suzn Fahmi: Die Versorgung der Babys mit Milch zum Beispiel stellt ein großes Problem dar. Die meisten Mütter stillen ihre Kinder nicht und es gibt im Camp kein Milchpulver, sodass die Kinder hungern. Als ich Samstagnacht im Camp war, kam eine Frau zu mir und weinte. Sie hatte ihr Kind mit Joghurt gefüttert, wodurch es dem Kind gesundheitlich sehr schlecht ging. Es war 21 Uhr und keine Krankenstation war mehr geöffnet. Die Krankenstationen sind bloß von 8 bis 16 Uhr geöffnet und es gibt keinen Nachtdienst. Es gibt sehr, sehr viele weitere Probleme, aber Wasser stellt auch deswegen ein großes Problem dar, weil sich die Menschen nicht waschen können.

Was wird getan, um die Kinder zu ernähren?

Suzn Fahmi: Was die Milch angeht, hilft fast niemand. Bloß die Barzani Charity Foundation hat beim Verteilen von Milch an einige Familien geholfen, womit der Bedarf im Camp leider nicht einmal ansatzweise gedeckt werden konnte. Bei einer Besprechung der Hilfsorganisationen im Camp vergangenen Sonntag wurde die Tatsache thematisiert, dass die NGOs sich gegen das Verteilen von Milch und für das Stillen der Kinder aussprechen. Dies ist ein großes Problem, weil viele der Frauen nicht stillen, was sie auch nicht tun würden, wenn sie in Syrien wären. Für dieses Problem wurde bis jetzt keine Lösung gefunden.

Wie sieht Ihre Arbeit im Camp momentan aus?

Suzn Fahmi: Derzeit kümmern wir uns als Khalsa Aid um die Bereitstellung heißer Mahlzeiten für Neuankömmlinge im Camp. Zudem kümmern wir uns in Zusammenarbeit mit BRHA, einer Regierungsorganisation der Autonomieregion Kurdistan, die für alle Flüchtlingscamps verantwortlich ist, momentan um die Hygiene und die Beseitigung von Müll im Camp, weil dafür aktuell niemand anderes Mittel zu haben scheint. Überdies stellen wir seit einer Woche Trinkwasser zur Verfügung, was sehr wichtig ist.

 

 

Was wünschen sich die Menschen in Bardarash?

Suzn Fahmi: Ich habe mit einigen Menschen in den Camps gesprochen: Sie würden gerne bleiben. Vor allem junge Menschen, zumeist junge Männer über 18 Jahre, sind geflohen, weil sie Angst hatten, sonst gezwungen zu werden, der syrischen Armee zu dienen. Andere sind nach Irakisch-Kurdistan geflohen, weil sie Verwandte haben, die schon seit mehreren Jahren hier leben – meist in anderen Camps. Andere haben auch Familie in Dohuk oder Erbil. Die Flüchtlinge wollen natürlich nicht in den Camps bleiben, sondern zu ihren Verwandten in die Städte gelangen. Allerdings haben sie keine Berechtigung, die Camps zu verlassen, um nach Suleymaniah oder Erbil zu reisen. Dies ist nur möglich, wenn sie Verwandte in Dohuk haben.

Beitrag zuerst erschienen auf Wadi-Online