Freitag, 26.01.2024 / 15:58 Uhr

Antizionismus: Regression und Illusion

Von
Gastbeitrag von Niklas Lemberger

Straßenkunst in Akko, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Jean Amérys Feststellung, dass der Antisemitismus im Antizionismus enthalten ist „wie das Gewitter in der Wolke“, liegt, wenn auch nur implizit, der zuletzt vor allem von Antizionisten viel gescholtenen IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus zugrunde, welche verschiedene Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus aufführt (und diese zugleich von sonstiger Kritik am Handeln Israels abhebt). Seit einiger Zeit fällt nunmehr einer ihrer Autoren, der ehemalige Antisemitismus-Experte des American Jewish Committee Kenneth Stern, hinter diese Erkenntnis zurück. 

"Ich sage nicht, dass jede Form von Antizionismus antisemitisch ist, aber das war damals das Klima."

Dabei spricht Stern ebenfalls die BDS-Anhängerschaft (Boycott, Divestment, Sanctions) per se vom Antisemitismus frei. Vielmehr müsse man zwischen antisemitischen und nichtantisemitischen BDS-Akteuren unterscheiden:

"Aber ob ich finde, dass die Unterstützung von BDS einen zum Antisemiten macht? – Nein, das finde ich nicht. Auch wenn man natürlich ein Antisemit sein kann, der BDS unterstützt."

Dass derartigem ‚Filetieren‘ - also der Suche nach Beispielen (die Stern in dem Interview im Übrigen nicht wirklich beibringt) für ‚reine’ d.h. über Antisemitismus erhabene Antizionisten - eine zwanghafte Tendenz zur Regression innewohnt, zeigt sich an dem Unwillen, auf die simple Tatsache zu reflektieren, was Antizionismus - also die Forderung nach Vermeidung bzw. Abschaffung jüdischer Staatlichkeit – nach 1945 bedeuten würde. Hat doch die Shoah mehr als alles zuvor verdeutlicht, dass Juden in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht auf den Schutz derselben vertrauen können (von sogenannten realsozialistischen Gesellschaften unabhängig von der Shoah bzw. trotz dieser ohnehin ganz zu schweigen). Daran ändern auch Widersprüche und Krisen innerhalb des Zionismus nichts.

Ebenso bleibt Stern konkrete Beispiele für den von ihm angeprangerten vermeintlichen Missbrauch der IHRA Definition schuldig. Er benennt keinen einzigen konkreten Fall, in dem die Definition dazu verwendet wurde, um einen Antizionisten als Antisemiten zu identifizieren, von dem er selbst der Meinung ist, dass dieser eben „nur“ Antizionist aber kein Antisemit sei. 

Keine zu Optimismus Anlass gebende Perspektive

Woher also diese Regression des Denkens und das Abstandnehmen von der Definition?

Es ist, so liegt es zumindest nahe, das Zurückschrecken vor der Konsequenz, die sich aus der Anwendung der eigenen Definition allzu klar ergeben würde: ein Blick auf eine Welt, in der Antizionismus als eine wesentliche Erscheinungsform des Antisemitismus keineswegs minoritär ist und somit als kaum handhabbares Problem erscheint, ist keiner, der eindeutige und zu Optimismus Anlass gebende Handlungsperspektiven für Politik und Zivilgesellschaft aufzeigt, sondern vielmehr zunächst Anwandlungen von Ohnmacht und Verzweiflung hervorzurufen geeignet ist. Einfache Antworten wären damit nicht identifizierbar, Ratlosigkeit und offene Fragen somit die Konsequenz. Mit anderen Worten: Es sähe dann recht düster aus. Zumindest fürs Erste.

So macht Stern, der selbst keineswegs zum Antizionismus konvertiert ist, diesen zu einer reinen Meinungsangelegenheit. Und über eine solche lässt sich sodann durchaus zivilisiert streiten.

"Wir haben an unserem College ein Stipendienprogramm, auf das sich eine palästinensische Studentin aus dem Westjordanland beworben hat. Doch wir konnten sie aus verschiedenen Gründen nicht aufnehmen. Sie sagte, dass wir sie wahrscheinlich deshalb ablehnten, weil sie BDS unterstütze. Und ich antwortete ihr: Das ist mir völlig egal. Ich bin nicht einer Meinung mit Ihnen, aber darüber können wir sprechen."

Dass die eine Meinung in diesem Streit den Tod von Millionen von Juden (einschließlich des Gesprächspartners) zumindest in Kauf nimmt, so dieser nicht gar bewusst ihrem Kalkül entspricht, muss bei einem solchen Gespräch ausgeblendet werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Illusion von der Rückkehr zu einem zivilisierten Diskurs funktioniert.