Eine ideengeschichtliche Notiz zur antisemitischen Völkermordverleumdung
Ende August wurde das NS-Denkmal in der Berliner Rosenstraße geschändet. »Die Juden begehen einen Völkermord«, mussten Besucher dort lesen. Darunter die palästinensische Flagge und die Worte »Free Palestine«. Zeit für eine ideengeschichtliche Anmerkung.
Seit dem 14. Jahrhundert waren die Europäer davon überzeugt, dass die Juden die gesamte Christenheit auslöschen wollten ‒ so wie sie bereits Christus gehasst und ans Kreuz geschlagen hatten. Mit einem schrecklichen Gift, heimlich in die Brunnen der Christen geträufelt, betrieben sie die Vernichtung der Christen Europas. Da sie die teuflische Macht zum Gottesmord besäßen, seien sie auch dazu willens und in der Lage. Die darauffolgenden Pogrome gegen die Juden während der Pestjahre (1348-1351) waren die schlimmsten bis zur Regierungsübernahme der Nationalsozialisten. Hunderttausende Juden wurden ermordet, verbrannt oder gerädert, Hunderttausende wurden vertrieben.
Die Legenden von den jüdischen Brunnenvergiftungen basierten auf der alten, judenfeindlichen Gottesmordlegende, doch sie markieren eine erhebliche Verschärfung des Antisemitismus. Während sich die Vorwürfe um Ritualmorde und Hostienschändungen noch auf einzelne, lokale Ereignisse bezogen, kommt in der Vorstellung von planmäßigen Massenvergiftungen erstmals die Idee einer jüdischen Weltverschwörung zum Umsturz ganzer Gesellschaften zum Ausdruck. Die Juden erschienen fortan nicht nur als religiöse, sondern auch als politische Gefahr ‒ als potentielle Völkermörder. Denn was hier den Juden unterstellt wurde, war nichts Geringeres als ein Genozid. Die Verleumdung zieht sich seither durch die Jahrhunderte, bis heute.
Martin Luther etwa unterstellte den Juden ebenfalls genozidale Absichten. Denn das Ziel des Juden sei es, »Christen umzubringen, wo er nur kann«. Knapp zwei Jahrhunderte später schrieb der deutsche evangelische Professor Johann Eisenmenger, die Juden wollten »die ganze Christenheit ausrotten und vertilgen«. Wieder also: Völkermord.
Die modernen Antisemiten halluzinierten dann nicht nur von einem jüdischen Plan zur Ausrottung der Christen, sondern von einem drohenden Völkermord an allen Nichtjuden. So unterstellte das antisemitische Machwerk der ›Protokolle der Weisen von Zion‹ den Juden, sie müssten »alle anderen Religionen vernichten«. Hitler schrieb in ›Mein Kampf‹, die Juden wollten die »Vernichtung aller nichtjüdischen Völker«. Immer wieder fabulierte er von einem jüdischen Plan einer »Volksvergiftung« einer »Völkerausrottung« und einer »Völkervernichtung«. Durch die Juden, so schrieb auch der Stürmer, werde »das Christentum in schauerlicher und gründlicher Weise ausgerottet«. Julius Streicher redete davon, die Juden wollten am deutschen Volk »den größten Ritualmord aller Zeiten« begehen. Im Zusammenhang mit einem angeblichen Ritualmord in Palästina fantasierte der Stürmer 1936 vom »Blut rituell gemordeter Menschen und Völker”. Auch die Nazis unterstellten den Juden also ‒ einen Völkermord.
Der britische Neonazi Nick Griffin sprach vor zehn Jahren davon, Linke, Kapitalisten und Zionisten betrieben »den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit, (…) die Endlösung des christlich-europäischen Problems«. Auch der rechtsradikale Attentäter, der 2019 die Besucher einer Synagoge in Kalifornien angriff, fabulierte in seinem Manifest von einem jüdischen Plan eines »Völkermordes an der europäischen Rasse«.
Der Völkermordvorwurf gegen die Juden ‒ oder gegen Israel ‒ hat also tatsächlich eine 700 Jahre alte Tradition. Schon lange vor dem israelisch-arabischen Konflikt entsprangen all diese Verleumdungen einem puren antisemitischen Wahn. (Natürlich ist bei den Feinden Israels zugleich offensichtlich, dass es sich um Projektionen handelt, dass also eigene genozidale Bestrebungen, wie sie seit der Staatsgründung immer wieder beschworen und am 7. Oktober auch ausgelebt wurden, auf Israel projiziert werden.)
Dass der nun wieder allenthalben gebrüllte Genozid-Vorwurf gegen Israel praktisch nie in diesen historischen Zusammenhang gestellt wird, zeigt, wie wenig das kritische und unabhängige Denken ‒ gerade auch in den Reihen der akademischen Sozialwissenschaften ‒ verbreitet ist.