Ein neues Ticketsystem für Stadien in der Türkei

Drittklassige Privatsphäre

Ein elektronisches Ticketsystem sorgt in der Türkei für leere Stadien. Betreiber ist eine Bank, der Erdoğans Schwiegersohn vorsteht.

Die Rivalitäten zwischen den Anhängern der drei großen Istanbuler Clubs Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş sind weit über die Landesgrenzen hinaus berüchtigt. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate herrscht nun aber weitgehende Einigkeit in den verschiedenen Lagern. Während die vereinsübergreifende Beteiligung der Fußballanhänger an den Gezi-Protesten im Frühsommer vergangenen Jahres weltweit Schlagzeilen machte, ist der Grund dieses Mal ein neues elektronisches Ticketsystem.
Seit der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes 6 222 zur »Prävention von Gewalt und Unordnung im Sport« vor drei Jahren galt die Umstellung auf elektronische Tickets nur noch als eine Frage der Zeit. Mit der Einführung des sogenannten Passolig-Systems im April dieses Jahres ging der türkische Fußballverband TFF aber noch einige Schritte weiter. Passolig ist ein Plastik-Ticket im Scheckkartenformat, auf das die Eintrittsberechtigung für einzelne Spiele aufgeladen wird. Fanrechtsaktivisten übten sogleich Kritik, insbesondere die mangelnde datenschutzrechtliche Sicherheit wurde beanstandet, verpflichtet man sich mit dem Erwerb der Karte doch dazu, neben Name, Telefonnummer und Anschrift auch ein Foto, die in der Türkei übliche persönliche Identifikationsnummer und gegebenenfalls ein Lieblingsteam anzugeben. Passolig erschwert zudem den spontanen Stadionbesuch, ebenso wie den Kauf von Tickets für Spiele anderer Vereine als desjenigen, der auf der Card hinterlegt ist. Auch über technische Probleme mit dem neuen System wird immer wieder berichtet, die erste Sicherheitslücke ließ auch nicht lange auf sich warten. Anfang November waren plötzlich Hunderte Datensätze von Passolig-Besitzern im Internet zu finden.
Thomas P. lebt seit über 14 Jahren in Istanbul und ist Fan von Rekordmeister und -pokalsieger Galatasaray. Ihn beschäftigt noch ein weiterer Kritikpunkt an Passolig: »Hersteller ist jemand aus der angeheirateten Verwandtschaft des Erdoğan-Clans.« Tatsächlich sind Verbindungen in die Familie des türkischen Staatspräsidenten nicht von der Hand zu weisen, wird das Ticketsystem doch von der Aktif-Bank betrieben, die wiederum Teil der Investmentgesellschaft Çalık Holding ist. Dieser wird eine besondere Nähe zur AKP-Regierung nachgesagt. Vor allem der Umstand, dass Recep Tayyip Erdoğans Schwiegersohn mit nur 29 Jahren die Leitung des Konzerns übernehmen konnte, weckte bei den Fans – gerade vor dem Hintergrund vergangener Korruptionsskandale im türkischen Fußball – schnell den Verdacht der Vetternwirtschaft.
Passolig hat eine Win-win-Situation geschaffen – für die Aktif Bank und die Regierung. Das Unternehmen mit lediglich acht Filialen und ohne offizielle Banklizenz konnte Hunderttausende Neukunden dadurch gewinnen, dass jede Karte zugleich mit einer Kreditkartenfunktion ausgestattet ist. Erdoğan wiederum ist es gelungen, umfassende Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen in Fußballstadien zu installieren.
Das Verhältnis zwischen der islamisch-konservativen Regierung und kritischen Fußballfans ist ohnehin mehr als angespannt. Bei den Protesten gegen die autoritäre Politik des türkischen Staats, die im vergangenen Sommer im Istanbuler Gezi-Park ihren Ausgangspunkt nahmen, waren Fangruppen aus dem ganzen Land beteiligt. Dass sich vereinsübergreifend Fans zusammentaten, um gemeinsam zu demonstrieren, beeindruckte damals viele Beobachter (Jungle World 25/2013). Nicht wenige regierungskritische Parolen waren auch nach dem Abklingen der Proteste noch in den Stadien zu hören – seit Einführung von Passolig scheint sich das erledigt zu haben. Erst im September dieses Jahres wurden 35 Mitglieder von Çarşı, der berüchtigten Fangruppe von Beşiktaş, angeklagt. Çarşı gilt demnach als illegale Organisation, den Betroffenen wird versuchter Umsturz der Regierung vorgeworfen. Ihnen drohen lebenslange Haftstrafen.
Die Etablierung des neuen Ticketsystems wird dennoch als Maßnahme zur Eindämmung der Gewalt verkauft. Nicht abzustreiten ist, dass es im türkischen Fußball ein Gewaltproblem gibt. Immer wieder kommt es zu schweren Auseinandersetzungen, bei denen es in der Vergangenheit mitunter sogar Todesopfer gab. Die großen Vereine spielen mittlerweile in sicherheitstechnisch hochgerüsteten Arenen, die Polizei ist am Spieltag stets präsent. Ungebührliches Verhalten auf den Rängen wird mit Geisterspielen bestraft. Bei den Istanbuler Derbys sind schon seit Jahren keine Gästefans mehr zugelassen.
Mit der Einführung von Passolig, gegen die es bereits im April erste Demonstrationen gab, ist es den Verantwortlichen nun vor allem gelungen, den Stadionbesuch unattraktiv zu machen. Zum Derby zwischen Beşiktaş und Fenerbahçe, einem der ersten Spiele mit den neuen personalisierten Tickets, verliefen sich nur einige tausend Schaulustige im 76 000 Personen fassenden Olympiastadion – in der Regel sind die Treffen der Istanbuler Vereine restlos ausverkauft. Und auch in der neuen Saison hat sich der Zuschauerschnitt noch längst nicht stabilisiert, nach elf Spieltagen liegt er bei nur etwas über 6 000 und ist damit nicht einmal halb so groß wie im Vorjahr. Knapp 20 000 Personen weniger als in der Vorsaison besuchen die Spiele von Galatasaray, dem favorisierten Team von Thomas P. Wie so viele bleibt er seit Beginn der Passolig-Zeiten lieber vor den Stadiontoren stehen: »In unserem engsten Kreis sind 75 Prozent auf Boykott.« Die Atmosphäre in den Stadien leidet entsprechend merklich unter der Weigerung vieler aktiver Fans, die persönlichen Daten am Stadioneingang abzugeben – eine ähnliche Entwicklung wie in Italien, wo viele Ultras und Fans wegen der vor einigen Jahren eingeführten Tessera del Tifoso, eines Fanausweises, die Unterstützung ihrer Mannschaften einstellten.
Anfang August organisierten Fanvertreter ein Symposium in Istanbul, auf dem sie sich deutlich gegen die elektronischen Tickets aussprachen. Die Verbandsverantwortlichen scheinen bisher aber zu keinem Einlenken bereit. Im Gegenteil wird gemutmaßt, dass das System noch ausgeweitet werden soll und man mit Passolig zukünftig auch Eintritt für andere Veranstaltungen bezahlen soll. Einzige Hoffnung der Gegner bleibt eine Klage, die mittlerweile ans Verfassungsgericht verwiesen wurde. Über den Fall entscheiden wird dieses aber wohl erst im Sommer 2015. So lange will Thomas P. nicht warten. Mit seiner Fangruppe geht er inzwischen lieber zum Basketball oder besucht unterklassige Spiele, in denen Passolig noch nicht gebraucht wird: »Wir weichen dann größtenteils auf andere Sportarten aus. Meinen Fußballspaß hole ich mir seit ein paar Monaten in den zahlreichen Stadien der dritten und vierten Liga, die ja zig Istanbuler Vereine beheimaten. Und hier ist der Zuschauerspruch auch gewaltig gewachsen.« Für diejenigen der türkischen Fans, die auch im Fußballstadion nicht auf ihre Privatsphäre verzichten möchten, scheint ein Spielbesuch tatsächlich nur noch jenseits der Profiligen möglich.