Bei den jüngsten Raketenangriffen auf Israel hat sich die Hamas weitgehend zurückgehalten

Islamisten in der Zwickmühle

Die jüngsten Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen auf Israel waren die schwersten seit langem. Doch diesmal war einiges anders als bei früheren Eskalationen.

Seit Donnerstag vergangener Woche um 5.30 Uhr Ortszeit herrscht offiziell Waffenstillstand. Vorausgegangen war ein kurzer, wenn auch äußerst heftiger Schlagabtausch. Innerhalb von 48 Stunden wurden aus dem Gaza-Streifen mehr als 450 Raketen auf Israel abgeschossen. Überall im israelischen Umland und sogar in Tel Aviv ertönten die Sirenen. Schulen blieben geschlossen und das öffentliche Leben kam größtenteils zum Erliegen. Tote waren auf israelischer Seite nicht zu beklagen, was angesichts zahlreicher dramatischer Situationen eher ein glücklicher Zufall war – so schlug am Dienstagvormittag eine Rakete mitten auf einer vielbefahrenen Schnellstraße nahe der Hafenstadt Ashdod ein. Insgesamt wurden in Israel etwa 60 Menschen verletzt. Sie erlitten Schocks, wurden von Raketensplittern getroffen oder zogen sich bei der überstürzten Flucht in einen der Schutzräume Blessuren zu. Dass in Israel nicht mehr ­geschah, ist vor allem dem Antiraketensystem Iron Dome zu verdanken, das nach Armeeangaben 90 Prozent der Geschosse abfing. Im Gaza-Streifen starben der Tageszeitung Haaretz zufolge hingegen 32 Menschen bei Angriffen der israelischen Armee, darunter auch Zivilisten und Kinder.

Auslöser der Raketenangriffe aus dem Gaza-Streifen war die gezielte Tötung Baha Abu al-Atas, des Oberkommandeurs der al-Quds-Brigaden, durch die israelischen Streitkräfte. Es war der erste solche Angriff auf ein hochrangiges Mitlied des Islamischen Jihad, dessen bewaffneter Arm die ­al-Quds-Brigaden sind, seit dem Sommer 2014. 

Die Luftwaffe ging mit äußerster Präzision vor. Zuerst sondierte eine Drohne das Terrain. Dann schlug eine Rakete in den Unterschlupf des 41jährigen ein und zerstörte nur die Etage, in der er sich mit seiner Frau befand, die ebenfalls starb. »Wir haben Abu al-Ata sowie dem Islamischen Jihad zu verstehen gegeben, dass wir sehr wohl wissen, welche Aktionen auf sein ­Konto gehen, und versucht, ihn von weiteren Angriffen abzuhalten«, sagte Israels Armeesprecher Jonathan Conricus. »Offensichtlich waren diese Warnungen nicht sonderlich erfolgreich.« Deshalb habe die Armee im Sommer ­angefangen, Abu al-Atas gezielte Tötung zu planen. »Baha Abu al-Ata war verantwortlich für die meisten Aktivitäten des Islamischen Jihad und eine tickende Zeitbombe«, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die jüngste Eskalation wenig von den vorangegangenen, von denen es allein seit Mai 2018 acht gab. Die Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung mit Raketen wurden mit gezielten Schlägen gegen die Infrastruktur der palästinensischen Terrororganisationen im Gaza-Streifen beantwortet. Doch es gab einen Unterschied. »Zum ersten Mal haben der Staat Israel und seine Streitkräfte ganz klar zwischen der Hamas und dem Islamischen Jihad unterschieden«, schrieb der Analyst Avi Issacharoff in der Times of Israel. »Nach früheren Attacken des Islamischen ­Jihad, also auch nach solchen, die von Abu al-Ata und anderen ausgingen, hat Israel die Hamas stets ebenfalls mit ins Visier genommen.« Weil deren Führungskader im Gaza-Streifen das Sagen hätten, habe sie in den Augen der israelischen Regierung automatisch als mitverantwortlich gegolten. »Als es jetzt Raketen auf Israel regnete, hat die Armee aber nur Einrichtungen und Personen angegriffen, die dem Islamischen Jihad zuzuordnen waren.« Brigadegeneral Hidai Zilberman, ein weiterer Armeesprecher, formulierte es klar und deutlich: »Wir greifen die Hamas nicht an.«

 

Die Hamas hielt sich denn auch aus dem Schlagabtausch heraus. Sie beließ es bei verbalen Solidaritätsbekundungen. »Euer Blut ist unser Blut«, rief der Hamas-Funktionär Ismail Radwan auf al-Atas Beerdigung. Aber als Mahmoud al-Zahar, ein anderer hochrangiger Hamas-Funktionär, anschließend das Trauerzelt besuchen wollte, bekam er den Unmut der Mitglieder des Islamischen Jihad zu spüren und musste unter Polizeischutz das Weite suchen. Die regierenden Islamisten sitzen in der Zwickmühle. Ihnen ist mit dem Islamischen Jihad ein Rivale erwachsen, der Sicherheitsexperten zufolge dank iranischer Hilfe mittlerweile über ein ähnlich großes Waffenarsenal wie die Hamas verfügt. Diese steht unter Druck, da Proteste gegen die soziale und wirtschaftliche Misere im Gaza-Streifen ihre Autorität herausfordern; ohnehin hat sie schon mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah Ärger genug.

Abu al-Ata war bei der Hamas keineswegs beliebt. Zu oft hatte er eigenmächtig Israel angegriffen, wofür dann auch die Hamas den Kopf hinhalten musste. »Abu al-Ata war wie ein Knochen im Hals der Hamas und Ägyptens, ja selbst der Führung des Islamischen Jihad in Damaskus, die letztlich einem Waffenstillstand zustimmte, ohne dabei etwas erreicht zu haben«, so die Einschätzung von Issacharoff. »Der Hamas kam es daher ganz gelegen, dass der Islamische Jihad diesmal alleine im Kampf gegen die israelische Armee dastand.« Allerdings setzt sie sich durch ihre Passivität dem Vorwurf aus, gegenüber dem »zionistischen Erbfeind« zu nachgiebig zu sein oder gar heimlich mit ihm zu kooperieren.

»Das Verhalten der Hamas sowie ­Israels verweist auf einige gemeinsame Interessen, die nicht nur die Schwächung des Islamischen Jihad zum Ziel haben, sondern ebenso einen langfristigen Waffenstillstand mit spürbaren Erleichterungen der Blockade des Gaza-Streifens als Gegenleistung«, schrieb der ehemalige Brigadegeneral Udi Dekel, mittlerweile Managing Director am Tel Aviver Think Tank Institute for National Security (INSS), in der Tageszeitung Israel HaYom. »Deshalb wollten beide Seiten ein rasches Ende der derzeitigen Auseinandersetzung, damit die Hamas nicht in eine Situation gerät, in der sie sich ein weiteres Abseitsstehen auf keinen Fall mehr leisten kann.« Selbst als die Hamas am Samstagmorgen zwei Raketen Richtung Be’er Sheva abfeuerte, um ihr Image als kämpferische Organisation aufrechtzuerhalten, gab es aus Israel keine nennenswerte Reaktion.

Avigdor Lieberman, der Vorsitzende der Partei Yisrael Beiteinu und ehema­liger Außenminister, bezeichnete die Schonung der Hamas sofort als »Kapitulation vor einer Terrororganisation«. Die Operation »Schwarzer Gürtel«, wie die Armee sie nannte, fand nicht bei allen Israelis Anklang. Schließlich hatte Israel am 17. September ein neues Par­lament gewählt – das zweite Mal in diesem Jahr. Weder Ministerpräsident Netanyahu als Amtsinhaber noch sein Herausforderer Benny Gantz haben es bislang geschafft, eine neue Regierung zu bilden, weshalb zum dritten Mal Wahlen drohen. Eine von Gantz angeführte Minderheitsregierung, die von der Vereinten Arabischen Liste toleriert würde, dürfte nicht mehr zur Debatte stehen, denn deren Abgeordnete kritisierten ausschließlich die israelische Regierung für ihr Verhalten im Gaza-Konflikt, aber nicht den Islamischen Jihad. Eher könnte der öffentliche Druck auf Gantz wachsen, sich mit Netanya­hu zu einer Koalition zusammenzutun. Die Ereignisse der vergangenen Tage dürften Netanyahu eher gestärkt als geschwächt haben.