Freitag, 06.09.2024 / 23:12 Uhr

Israel nach der Ermordung von sechs Geiseln durch die Hamas

Bushaltestelle in Tel Aviv, Bild: Thomas von der Osten-Sacken

Just wenn man denkt, es könne in Israel dieser Tage nicht mehr schlimmer werden, folgt ein weiterer Schlag, der das bisher Erlebte noch einmal relativiert.

So auch geschehen am vergangenen Sonntag, als bekannt wurde, dass sechs Verschleppte am Vortag von Hamas-Terroristen exekutiert worden waren. Forensische Untersuchungen an den Opfern, die kurz nach ihrer Ermordung von israelischen Soldaten in einem zwanzig Meter tiefen Tunnel im Gazastreifen entdeckt wurden, ergaben zudem, welch schreckliche Zeit diese Menschen während ihrer 330 Tage währenden Geiselhaft fristen mussten. So wog etwa Eden Yerushalmi, die am 7. Oktober auf dem Nova Festival entführt worden war, am Ende nur noch 36 Kilogramm.

Zerschmetterte Hoffnung

Die Nachricht war auch deshalb so erschütternd, weil man bislang große Hoffnungen auf die Befreiung eben dieser Geiseln gesetzt hatte. Sie waren allesamt jung und bislang wohl auch gesund, obschon die Hamas-Terroristen einem der sechs, dem 23-jährigen Hersh Goldberg-Polin, bereits am 7. Oktober einen Arm weggeschossen hatten.

Nichtsdestotrotz hatte man Lebenszeichen von ihm und den anderen erhalten und wusste, dass ihre Namen auf den potenziellen Freilassungslisten aufschienen. Da viele der Entführten eine Doppelstaatsbürgerschaft besaßen, setzten sich auch internationale Politiker für sie ein. Die Erkenntnis, dass diese sechs Menschen um Haaresbreite hätten gerettet werden können – sie wurden nur Stunden vor ihrem Auffinden getötet –, stürzte die israelische Bevölkerung in Verzweiflung.

Tausende gaben den Opfern persönlich das letzte Geleit, weitere Millionen wohnten den Beisetzungen per Direktübertragung bei. Besonders auffallend war in diesen Momenten der Zusammenhalt der israelischen Bevölkerung, bei der es an Zwist und Spaltung seit einiger Zeit ja nicht fehlt. Als am Montagabend Familienangehörige der verbleibenden Geiseln zu einer Massenversammlung aufriefen, fanden sich Alte und Junge, Religiöse und Säkulare, Linke und Rechte ein, um ihre Solidarität zu bekunden.

Vereinend wirkte auch die landesweite Fassungslosigkeit darüber, dass in den internationalen Medien nicht von ermordeten, sondern von »tot geborgenen Geiseln« die Rede war. Wie lange noch, so fragten sich die meisten, würde die Welt der Hamas Glauben schenken? Wie lange noch würde sie ignorieren, dass sich der islamistische Terror nicht nur gegen Israel, sondern gegen den gesamten Westen und seine Werte richtet?

Drohende Zwietracht

Ob die Eintracht allerdings anhält, bleibt fraglich. Denn die bestehenden Differenzen drohen erneut aufzubrechen. Kein Wunder, sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungsunterstützern und -gegnern zu groß und die möglichen Problemlösungen zu widersprüchlich.

Die grundlegenden Differenzen kamen bei zwei aufeinanderfolgende Pressekonferenzen deutlich zum Vorschein. Am vergangenen Montagabend erklärte Premierminister Netanjahu dem Volk, warum er den sogenannten Deal zur Freilassung der Geiseln nicht ohne Vorbehalte unterzeichnen wolle. Israel, so Netanjahu, dürfe sich jetzt auf keinen Fall aus dem einmal eroberten Philadelphi-Korridor zurückziehen. Über diese vierzehn Kilometer breite Passage, die den Gazastreifen mit Ägypten verbindet, würden Waffen, Geld und Nachschub an die Hamas gelangen. Sie sei die Lebensader der Terroristen.

Zwar würden die Militärexperten ihm versichern, man könne den Korridor leicht wieder erobern. Er, Netanjahu, wolle sich aber nicht beirren lassen, denn eine solche Rückeroberung sei nicht nur militärisch, sondern auch politisch-strategisch höchst problematisch. So sprach der Premier mit Nachdruck, versicherte nochmals die für Israel existenzielle Bedeutung des Philadelphi-Korridors und untermauerte seine Argumente mit bestechenden Illustrationen.

Am nächsten Abend folgte die Pressekonferenz von Benny Gantz und Gadi Eisenkott, den zwei ehemaligen Generalstabschefs, die wegen fundamentaler Meinungsverschiedenheiten mit Netanjahu vor einigen Monaten aus dem Kriegskabinett ausgetreten waren. Sie wollten nun, so ihr deklariertes Ziel, der Öffentlichkeit die Wahrheit präsentieren: Nicht der Rückzug aus dem Grenzgebiet sei für Israel eine existenzielle Bedrohung, sondern die Fortschritte des Irans auf dem Weg zur Atommacht – eine Bedrohung mit der sich Netanjahu nicht ausreichend befasse. Von wesentlicher Bedeutung sei zudem die Befreiung der Geiseln, denn sie entspräche den Grundwerten des Landes und ihrer Bewohner.

Notwendige Voraussetzung

Als der Krieg vor fast einem Jahr begann, stand alles unter dem Motto »Gemeinsam werden wir siegen«. Schließlich hatte die israelische Bevölkerung schmerzlich erkannt, welchen Schaden die zuvor herrschenden internen Konflikte anrichten konnten. Trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten bleibt nun die Hoffnung, dass die Gesellschaft den Zusammenhalt, der nach der Ermordung der sechs unschuldigen jungen Menschen spürbar wurde, aufrechterhalten kann. Die meisten Israelis wünschen sich einen fundamentalen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Er ist es nämlich, der die Zukunft des Landes bestimmt.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch