Hungerleider raus, Trikont-Eliten rein

In Frankreich steckt ein Untersuchungsbericht den Rahmen für Immigration im Interesse des Staates ab

Immigrieren, aber richtig: Am 31. Juli 1997 hat der Soziologe und Politologe Patrick Weil, Dozent an der Universität Paris-Dauphine, Premierminister Lionel Jospin 120 Vorschläge zur Immigration vorgelegt. Am 19. Juni war Weil von Jospin mit der Erarbeitung des Berichts beauftragt worden, der als Grundlage für die geplante Neugestaltung der Ausländergesetze durch die Linksregierung dienen soll. Der sozialistische Premier hat nunmehr die Vorlage zweier Gesetzentwürfe bis Jahresende 1997 angekündigt: einen zu Einreise und Aufenthalt von Ausländern, einen zweiten zum Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Für Herbst dieses Jahres wird daher allgemein eine große parlamentarische Debatte zur Immigrationspolitik erwartet.

In einem Interview mit der Tageszeitung Libération vom 1. August unterstreicht Weil sein Bemühen, das Thema Immigration der politischen Kontroverse zu entziehen. "Alle Solidaritätsvereinigungen mit den Immigranten, alle betroffenen Behörden, die Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Anwälte und Richter" habe seine 18köpfige Kommission konsultiert; sie seien "sich weit einiger über die Probleme der Ausländer, als sie denken". Frankreich sei "das einzige Land, welches das Immigrationsproblem politisiert hat", während in den USA, in Deutschland und Großbritannien "die Gesetzgebung häufig geändert" werde, ohne daraus wie in Frankreich eine politische "Prinzipienangelegenheit" zu machen. Der konservative Figaro hatte Ende Juli im Zusammenhang mit dem Weil-Bericht vom Bemühen der Jospin-Regierung um einen "republikanischen Konsens" gesprochen.

Das Kalkül von Premier Jospin wie von Innenminister Chevènement ist durchsichtig: Ein Entgegenkommen gegenüber den ordnungspolitischen Vorstellungen der Rechten und ein "Kompromiß" könnte dazu führen, daß das Thema Immigration endlich aus dem Zentrum der innenpolitischen Debatte verschwindet, wo es die extreme Rechte nährt. Die Rechnung dürfte allerdings ohne konservative Politiker wie die Ex-lnnenminister Pasqua und Debré gemacht worden sein. Für die stellt die Immigrationspolitik ein von der Rechten aktiv zu besetzendes Feld dar, auf dem sie gesellschaftliche Zustimmung ernten kann - als Gegengewicht zur Sozialpolitik, auf deren Feld die Linke meist besser plaziert ist. Wobei die größte Gefahr darin besteht, daß soziale Enttäuschung über die regierende Linke sich mit dem Immigrationsdiskurs der Rechten vermengt.

Auch Präsident Chirac hat es sich in seiner Ansprache zum Nationalfeiertag am 14. Juli nicht nehmen lassen, auf diesem Feld die neue Regierung zu attackieren. Gegen die Fakten behauptete er, die Regierung wolle "allen illegalen Ausländern Papiere geben", und betonte, dies "legitimiere die illegale Einwanderung und stelle einen Anreiz zur Einwanderung dar", eine "Laschheit", die wiederum "die Ausländerfeindlichkeit und den Rassismus nährt".

Was aber schlägt die Weil-Kommission, auf deren Konzepte sich die Jospin-Regierung stützen will, nun konkret vor? Ausgangspunkt für das Weil-Projekt, so der Soziologe, sei es, die Debatte von der "Besessenheit vom Immigrations-Risiko" wegzuführen und statt dessen das "Interesse Frankreichs, offener für die Flüsse des Kommens und Gehens zu sein", in den Mittelpunkt zu stellen. In einem Interview mit Le Monde spricht Patrick Weil von einer "...ffnung der Grenzen in Abhängigkeit vom nationalen Interesse". Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Kommissionsbericht etwa, großzügiger bei der Visa-Vergabe zu verfahren - so die Zusammenfassung des konservativen Figaro - "wenn es um sein Interesse und sein internationales Image geht."

Dementsprechend enthält der 120-Punkte-Katalog unter dem Titel "Der Immigrationspolitik seinen Platz im Kern einer dynamischeren, internationalen Politik zurückgeben" die folgende Liste: "Ausländische Studenten besser empfangen. - Das Kommen von Dozenten, Forschern und Stipendiaten von hohem Niveau erleichtern. - Den Platz Frankreichs im internationalen ökonomischen Wettbewerb verbessern, indem man Investoren und hochqualifizierten Arbeitern eine Aufenthaltsmöglichkeit eröffnet. - Entwicklungspolitik und Immigrationspolitik miteinander verbinden."

Das Gesamtkonzept zielt also offenkundig darauf ab, eine bessere Verbindung als bisher zu den (akademischen und intellektuellen) Eliten - vor allem aus der sogenannten Dritten Welt - aufzubauen. Nochmals der Figaro: "Wenn afrikanische Studenten, die ein französisches Abitur haben, in England oder den USA weiterstudieren müssen, handelt es sich für Frankreich um eine verschwendete Investition." Weil selbst erklärte gegenüber Le Monde: "Es ist nicht normal, daß die Elite der frankophonen Länder, die wir besser oder genauso gut wie Belgien, die USA oder Großbritannien ausbilden können, sich aufgrund unserer aktuellen Politik auf diese Länder ausrichtet. Ja, ich schlage vor, daß wir diese politische, intellektuelle und wirtschaftliche Elite ausbilden, daß wir (...) ihr erlauben, zwischen Frankreich und ihrem Herkunftsland zu verkehren." Auf die Frage, ob er keine "elitäre Konzeption der Einwanderung" habe, fährt der Kommissionschef fort: "Soll man bei der aktuellen Lage des Arbeitsmarkts das Land für die Einwanderung von Nichtqualifizierten öffnen? Wir denken: nein."

Auch bei einer weiteren Rubrik des 120-Punkte-Katalogs der Weil-Kommission denkt der Figaro zuerst an den außenpolitischen Nutzen für Frankreich. Die Kommission schlägt nämlich die Erweiterung der Asylgesetzgebung vor. Diese soll auf Personen ausgedehnt werden, die Verfolgungen von anderer als von Staats- und Regierungsseite ausgesetzt sind. Die aktuelle Gesetzgebung, die sich auf die Genfer Konvention beruft, sieht politische Verfolgung als Asylgrund nur gegeben, wenn sie von staatlichen Organen ausgeht. Der Figaro: "Zum Asylrecht hat die Kommission gearbeitet, indem sie an Algerien dachte. Viele Bürger dieses Landes, die von den verschiedenen islamistischen Gruppierungen bedroht werden, können derzeit nicht den Status des politischen Flüchtlings (...) erhalten. Hier findet sich eine Möglichkeit für Frankreich, der demokratischen, nicht-islamistischen Opposition in Algerien die Hand zu reichen." Darin liegt natürlich auch ein strategisches Mittel der Pariser Außenpolitik, die bisher vorwiegend auf das amtierende Militärregime in Algier setzte, sich jedoch angesichts ihres erodierenden Einflusses innerhalb des algerischen Regimes nach neuen Bündnispartnern umsehen muß - etwa in Gestalt der algerischen republikanischen Parteien.

Unabhängig von diesem Kalkül muß die Reform, wird sie umgesetzt, wegen ihrer objektiven, lebensrettenden Wirkung für viele Betroffene begrüßt werden. Dafür erscheinen andere der Vorschläge der Kommission zum Asylrecht zugleich als wesentlich weniger sympathisch. So soll Asylsuchenden aus Ländern, für die das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR das "Ende der Verfolgung" erklärt hat, nur noch die Möglichkeit zu einem "Antrag mit beschleunigter Bearbeitung, das heißt in einigen Stunden" (Originalton Kommission) verbleiben; im Falle der Ablehnung sollen sie weder eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung noch Sozialhilfe erhalten. Grundsätzlich will die Kommission dem Asylrecht "einen Ausnahmestatus zurückgeben" (so Weil in Le Monde, 8. August) und es daher gesetzestechnisch aus dem allgemeinen Ausländerrecht herausnehmen.

Was die Abschiebehaft angeht, soll zwischen "zwei Typen von Ausländern" (Libération, 1. August) unterschieden werden: solchen, die nur wegen illegalem Aufenthalt inhaftiert werden, und jenen, die wegen Verstoß gegen andere Gesetze im Gefängnis landen.

Erstere sollen keine Haftstrafen wegen des Delikts illegalen Aufenthalts mehr absitzen, sondern "nur noch" abgeschoben werden, dies aber auf jeden Fall. Zu diesem Zweck sollen sie bis zu fünf Tage (bisher: 24 Stunden, seit dem Debré-Gesetz: 48) in reine Abschiebehaft - also nicht Strafhaft - genommen werden können, "die Zeit, um ihre Sachen und ihr Geld zusammenzubringen". Hingegen sollen strafrechtlich verurteilte Ausländer nach Entlassung aus dem Gefängnis bis zu einem Monat in Abschiebehaft, die demnach auch eine zusätzliche Straffunktion hätte, landen.

"Die Doppelstrafe, ich bin dafür", zitiert die Libération Patrick Weil. Als "Doppelstrafe" beklagen Protestbewegungen seit langem die Ergänzung von Freiheitsstrafe plus Abschiebung. Die beiden Gruppen von Abschiebehäftlingen sollen künftig getrennt und in verschiedenen Haftanstalten untergebracht werden. Die Solidaritätsgruppe für Immigranten GISTI bezeichnet die Vorhaben für strafrechtlich verurteilte Ausländer als neue "Dreifachbestrafung": Gefängnis, Abschiebehaft plus Entfernung aus dem Land. Die linksgerichte Richtergewerkschaft SM spricht von einer "absoluten Schikane" und einer Fortführung der repressiven Logik der Pasqua- und Debré-Ausländergesetze, welche die Linksregierung eigentlich ersetzen wollte.

Dagegen sollen - offensichtlich im Interesse einer Effektivierung - "unnötige Kontrollen abgeschafft werden". Rentner unter den Immigranten beispielsweise, die zwischen ihrem Herkunftsland und Frankreich (wo sie einen Pensionsanspruch erworben haben) hin- und herpendeln, sollen dies ungehindert können. Die Familienzusammenführung soll erleichtert werden, indem man "die Integrationskapazitäten der Familie (...) einer dynamischen Einschätzung unterzieht". Die Situation von mit Franzosen verheirateten Ausländern allerdings soll durch die Kommission gegenüber dem aktuellen Stand noch weiter erschwert werden: Die ausländischen Ehepartner sollen erst nach zwei Jahren (bisher nach zwölf Monaten) einen ausländerrechtlichen Aufenthaltsanspruch in Frankreich erhalten.

Was in Frankreich geborene und aufgewachsene Kinder von Ausländern betrifft, so sollen sie künftig mit 18 Jahren wieder automatisch die französische Staatsbürgerschaft erhalten, anstatt im Alter zwischen 16 und 21 eine "Willenserklärung" abgeben zu müssen, die seit dem Pasqua-Gesetz von 1993 von ihnen erwartet wird. Symbolisch bedeutet dies eine Rückkehr zum ius soli, auch wenn die realen Veränderungen dadurch gering sind.

Während antirassistische und Immigranten-lnitiativen wie die GISTI und die "Liga für Menschenrechte" LDH sowie die (an der Regierung beteiligten) Grünen teilweise scharfe Kritik von links an den Vorschlägen der Kommission übten, reagierten die konservativen Oppositionsparteien "moderat" (so Le Monde vom 2. August) auf sie. Der ehemalige lnnenminister Jean-Louis Debré stellte triumphierend fest: "Es ist (bei der Linksregierung) keine Rede mehr davon, das Gesetz abzuschaffen, das ich habe abstimmen lassen, und das ist für mich eine gute Sache." Im Februar und März dieses Jahres hatten einige hunderttausend Menschen überall in Frankreich gegen das Debré-Gesetz demonstriert und Aufrufe zum zivilen Ungehorsam unterschrieben.

Tatsächlich will die Kommission weder die repressiven Ausländergesetze des Innenministers Pasqua von 1993 noch jene seines Amtsnachfolgers Debré von 1997 abschaffen, wie es etwa das sozialistische Wahlprogramm im Mai 1997 versprochen hatte. In Le Monde erklärte Patrick Weil: "Wir sind nicht mit der Geisteshaltung losgegangen, die existierenden Gesetzestexte zu verteufeln". Statt dessen sei es darum gegangen, konkreten Schwierigkeiten bei der Umsetzung nachzugehen - "ein pragmatisches Herangehen", so Weil.

"Dieser Bericht", so Debré am 1. August, "geht außer beim Asylrecht ganz in dieselbe Richtung wie das Gesetz, das ich 1997 vorgelegt habe." Zugleich ließ es sich der Law-and-order-Mann jedoch nicht nehmen, sich "besorgt" über die Vorschläge zum Asylrecht zu äußern: "Diese Vorschläge sind (...) total utopisch und gefährlich. Wir werden in Frankreich nicht alle verfolgten Volksgruppen aufnehmen."

So hält die Rechte den Druck aufrecht, während sie in der Sache weitgehend triumphieren kann.