Alle wollen weniger

Auch SPD und Bündnisgrüne sind in die "Sozialschmarotzer"-Kampagne der Bundesregierung eingestiegen.

So langsam hat die Kampagne auch bei Silke B. Zweifel aufkommen lassen. Zwar glaubt die 26jährige Berlinerin "natürlich kein bißchen" an den von Bild regelmäßig aufgedeckten "massenhaften Sozialbetrug" durch bosnische Familien oder windige Geschäftsleute, die Hunderttausende Mark Sozialhilfe abkassieren sollen, indem sie sich in verschiedenen Gemeinden melden. Und auch daß der Spiegel nun in der vergangenen Woche mit einem seriös aufgemachten Bericht über "bandenmäßiges Fälschen von Urkunden", unterfüttert mit Urteilen gegen gefaßte und Geständnissen selbst gefundener Betrüger, daherkam, ändert daran nichts.

Aber was sie mißtrauisch macht, das sind die Details, die nebenbei mitverbreitet werden: Daß sie lesen muß, daß die Sozialämter in anderen Städten für den Gang ins Fitneßstudio oder den Computer samt Zubehör "Hilfe in besonderen Lebenslagen" (HbL) herausrücken. Sie selbst lebt von 531 Mark Regelsatz plus noch einmal soviel für ihre beiden ein- und zweieinhalbjährigen Töchter zusammen. Und ihr Amt zahlt nicht einmal Wegwerfwindeln. Der alleinerziehenden Mutter, so die Begründung, könne durchaus zugemutet werden, schmutzige Wäsche selbst zu waschen. "Kann man das denn nicht vereinheitlichen?" fragt Silke B. und hat damit den Köder geschluckt.

Denn genau das plant die Bundesregierung für die Zeit nach der Sommerpause: Sie will die HbL, die bislang im Ermessen der Sozialhilfeträger, also der einzelnen Gemeinden und Kommunen liegen, qua Rechtsverordnung bundesweit pauschalisieren. Daß das allerdings nicht so aussehen wird, wie Silke B. es sich vorstellt, zeigt der Arbeitsentwurf des zuständigen Bundesgesundheitsministeriums: Statt daß die Berlinerin sich und ihre Töchter künftig mit der Aldi-Version von Pampers verwöhnen kann, müssen Sozialhilfebezieher in allen Städten sich daran gewöhnen, nur noch Second hand einzukaufen, egal ob Klamotten, Hausrat oder Möbel. Und bei Reparaturen und Renovierungen sollen sie unbezahlt selber ran. Denn die Vereinheitlichung soll keineswegs einer größeren Gerechtigkeit dienen, sondern vor allem die Ausgaben senken - rund 240 Millionen Mark, so die Schätzung, könnten so eingespart werden. Rein rechnerisch nicht viel bei 49,8 Milliarden Mark Sozialhilfekosten insgesamt im vergangenen Jahr, aber politisch ein wichtiger Schritt in der Vorbereitung auf die für das nächste Jahr vorgesehene erneute Reform des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), bei der die Arbeitspflicht weiter verschärft, die Zahl der Kontrolleure sowie der Lohnabstand zu niedrigen Einkommensgruppen erhöht und das Sozialhilfeniveau insgesamt gesenkt werden soll.

Die Chancen, daß die Bundesregierung Verordnung wie auch Reform ohne allzuviel Gegenwehr durchbringt, sind seit den Auseinandersetzungen um das Bonner Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung im Sommer 1996 enorm gewachsen. Denn inzwischen ist die damals viel zitierte Blockade der SPD mehr als angeknackst, die auch von Bundestagsfraktionschef Rudolf Scharping geforderte bedarfsdeckende Grundsicherung, die heute nur noch die PDS will, längst wieder in der Schublade verschwunden. Gemeinsam mit CDU/CSU, FDP und sogar den Bündnisgrünen machen die Sozialdemokraten derzeit selbst Front gegen Sozialhilfebezieher.

Als Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und Friedhelm Ost, Vorsitzender des Bundestagswirtschaftsausschusses, Mitte August in Zeitungsinterviews erklärten, man müsse dem angeblich gestiegenen Sozialhilfebetrug einen Riegel vorschieben, indem man die Sozialhilfe einerseits so unattraktiv wie möglich mache, andererseits Antragsteller und Bezieher genauestens kontrolliere, empörten sich nur noch wenige.

Warum sollten die Kommunen und Gemeinden nicht mehr Möglichkeiten für sogenannte gemeinnützige Arbeiten schaffen, also befristete Stellen, die mit 1,50 bis drei Mark pro Stunde zusätzlich zur Sozialhilfe prämiert werden und weder arbeits- noch tarifrechtlich abgesichert sind? "Weil damit nur von der katastrophalen Beschäftigungspolitik der Bundesregierung abgelenkt werden soll", so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er forderte, statt dessen ABM-Stellen oder Umschulungen auch für Sozialhilfebezieher zu öffnen. Der Geschäftsführer des Deutschen Städetages, Jochen Dieckmann, gab ihm recht. Tatsächlich gebe es bundesweit gerade mal 200 000 der sogenannten Prämienarbeitsplätze, aber angesichts von viereinhalb bis sieben Millionen Arbeitslosen seien Forderungen nach einem massenhaften Ausbau illusorisch. Schon jetzt bedeuteten die Organisation und die Lohnkostenzuschüsse, die die Sozialämter seit der BSHG-Novelle von 1996 an Arbeitgeber zahlen können, wenn diese Sozialhilfebezieher einstellen, Mehrkosten in Höhe von zwei bis drei Milliarden Mark. "Nicht die Sozialhilfebezieher blockieren, sondern die Kommunen - aus guten Gründen."

Nicht nur bei der Regierungskoalition sondern auch in der SPD - und hier nicht nur bei Gerhard Schröder - stießen diese Äußerungen auf Unverständnis. "Ich fordere alle Städte und Gemeinden auf, jedem Sozialhilfeempfänger, der dazu in der Lage ist, eine Arbeit anzubieten. Bei Ablehnung wird die Sozialhilfe gesenkt und im Wiederholungsfall ganz gestrichen", meldete sich Hans-Gottfried Bernrath, Städtebundpräsident und früherer Bundestagsabgeordneter der SPD, zu Wort. "Das schafft mehr Gerechtigkeit und spart Milliarden."

Der Trend bei Sozialdemokraten und Gewerkschaften, der Bundesregierung in Sachen Mißtrauen gegen Sozialhilfebezieher Konkurrenz zu machen, ist nicht neu. So ist IG-Chemie-Chef Hermann Rappe längst dafür bekannt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erklären, "daß in der Arbeiterbewegung Drückebergerei seit jeher nicht geschätzt wird". Und der Richtungswechsel bei der SPD war bereits bei der Sozialabbau-Debatte vor einem Jahr deutlich geworden, als die sozialdemokratischen Landesregierungen, die zuvor noch neben Wohlfahrtsverbänden und Initiativen gegen das Bonner Sparpaket demonstriert hatten, im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat umschwenkten. Im Tausch gegen die ursprünglich geplante Festlegung des Lohnabstandsgebots auf 15 Prozent stimmten sie zu, daß Verweigerer von gemeinnützigen Arbeiten 25 Prozent weniger Sozialhilfe bekommen sollen.

Selbst linke SPDler, Sozialexperten und die meisten rot-grünen Kommunen und Gemeinden fanden einen Dreh, den Kompromiß für tragbar zu erklären. Die SPD sei "nicht wirklich eingeknickt", meinte beispielsweise die Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann. Schließlich sei gemeinnützige Arbeit nicht eindeutig definiert. Zwar könnten darunter auch Tätigkeiten wie Straßenkehren und Gartenbauarbeiten verstanden werden, die lediglich mit sogenannten Prämien zusätzlich zur Sozialhilfe abgegolten würden. Das werde von der Bundesregierung auch suggeriert. Tatsächlich aber seien damit genauso zeitlich begrenzte, tariflich bezahlte Arbeiten gemeint. "Und wenn ein Sozialhilfebezieher die angeboten bekommt, wird er sicher nichts dagegen haben." Und wenn doch, dann sei ihm "auch nicht zu helfen".

So hatte man sich sowohl in Bonn als auch in Bielefeld und anderen rotgrünen Kommunen auf entsprechende "Hilfen zur Arbeit" geeinigt.

Einen letzten Versuch, die Glaubwürdigkeit der Partei zu retten, unternahm die Bundestagsfraktion im März dieses Jahres, als sie den Sozialhilfeleitfaden der Bielefelder Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen mit einem Vorwort von Fraktionschef Rudolf Scharping versah und neu auflegte. Auch wenn dieser Leitfaden nichts weiter ist als eine Warnung vor Behördenwillkür und eine Hilfe zur Nutzung des gesetzlichen Rahmens, sorgte er beim Bonner Gegner doch für erhebliche Verärgerung: "Jeder weiß, daß der Sozialstaat am Ende wäre, wenn alle Bürger sämtliche Ansprüche geltend machen würden", wetterte der FDP-Abgeordnete Wolfgang Weng in einer eigens angesetzten Bundestagsdebatte. Der Staat könne nicht prüfen, ob Sozialhilfeberechtigte deswegen keine Anträge stellten, weil sie keine Ahnung hätten oder weil sie es nicht wollten. "Es gibt jedenfalls genügend Beispiele, daß schon die Aufforderung zur Ausnutzung von Rechtsansprüchen nicht sinnvoll ist." Roland Richter von der CDU/CSU-Fraktion wollte sogar darüber hinaus herleiten, daß die Verantwortung für die höheren Sozialhilfeausgaben bei den Frauen liege, und zwar bei "geschiedenen Frauen, alleinerziehenden Müttern". Denn die Bundesregierung könne nichts dafür, wenn die sich scheiden ließen und "anschließend alleine sind". Das Scheidungsrecht sei schließlich geändert worden, "als hier andere Mehrheiten das Sagen hatten".

Diese Argumentation hat die Sozialdemokraten nicht davor zurückschrecken lassen, das Herangehen der Koalitionsparteien letztlich doch da zu kopieren, wo sie selbst in der Regierungsverantwortung stehen. Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau ging im April erstmals mit der Forderung nach einer stärkeren Kontrolle von Sozialhilfebeziehern und mehr Arbeitseinsätzen an die Öffentlichkeit. Ohne großen Rummel zieht sein Lübecker Kollege Michael Bouteiller seit genau einem Jahr ein Programm durch, nach dem laut Pressestelle der Stadt inzwischen "mindestens sechs- bis siebenhundert Leute aus der Sozialhilfestatistik gestrichen" werden konnten, weil sie Prämienarbeit verweigert hatten.

Und selbst die rot-grünen Kommunen bereiten den Rückzug vor. In Bielefeld und Bonn gibt es zwar noch keine Beschlüsse, es kursieren aber Vorlagen, in denen vorgerechnet wird, wieviel sinnvoller und sparsamer es sei, Sozialhilfebezieher zu gemeinnützigen Arbeiten im Gartenbau oder als Straßenkehrer heranzuziehen als teure tariflich abgesicherte Stellen einzurichten. Dabei könnte es durchaus eine Rolle spielen, daß beide Städte planen, ihre Verwaltungen zu straffen und kommunale Aufgaben billiger zu bewältigen - auch wenn das Grundgesetz verbietet, kommunale Aufgaben von Prämienarbeitern erledigen zu lassen.

All das ist auch in der Bevölkerung nicht ohne Wirkung geblieben. Beinahe weniger im Mittelstand, der sich längst selber bedroht fühlt und nicht mehr ganz so emphatisch in die Anti-Schmarotzer-Kampagnen einfällt, als vielmehr direkt bei den potentiellen Sozialhilfebeziehern. "Immer dieses komische Gefühl, wenn es zum Amt geht", nennt Silke B. das. Während aber die einen dem finanziellen und sozialen Druck mit oft berechtigtem Mißtrauen gegen behördliche Entscheidungen begegnen und auch bereit sind, ihre Rechte vor dem Verwaltungsgericht einzuklagen, tendieren andere in die entgegengesetzte Richtung. Insbesondere im Osten, so das Fazit der soeben vorgelegten neuen Studie von Caritas und Diakonie zur verdeckten Armut, fällt es vielen leichter, Schulden zu machen: Auf zehn Sozialhilfebezieher kommen im Durchschnitt 17, die aus Scham oder Unwissenheit auf die Unterstützung verzichten.