Die Party ist vorbei

Stücke, die nach Sonnenuntergang geschrieben sind: Bob Dylans CD "Time Out Of Mind"

Das letzte der elf Stücke auf der neuen CD "Time Out Of Mind" von Bob Dylan heißt "Highlands" und dauert 17 Minuten. Da singt der 56jährige von jungen Leuten, die er beobachtet. Das Lied beginnt mit einem einfachen Gitarrenriff und wird ergänzt durch das, was man bei Dylan Stimme nennt. Wie ein alter Mann singt er von seinen Träumen, daß er morgens aufwacht und immer alles seinen Gang geht ("life in the same old cage"), er näselt von einer "world of mystery", er knarzt, daß er "feels like a prisoner", er murmelt, "the party is over", und er raunzt mißmutig, "everything looks far away", ja, er behauptet sogar, Neil Young zu hören. Ein ziemlicher Mist ist das also, was der sich alt fühlende Mann da zusammegereimt hat. Einsam ist man anscheinend, wenn "my hearts in the highlands" sind.

"Highlands", der Schlußtitel des Albums, ist das Meisterstück. Unnachahmlich näselnd, stärker als je auf seine Stimme vertrauend, die wirklich etwas besonderes hat - so werden in New York alljährlich die Menschen ermittelt, die über die dylaneskeste Stimme, die dylaneskeste Nase und die dylaneskeste Mundharmonikatechnik verfügen -, trägt er im nicht endenwollenden Bluesrhythmus ein großartiges Gedicht vor: "Over the hills and far away, there's a way to get there and I figure it out somehow. But I'm already there in my mind, and that's good enough for now", heißt es am Ende. Was meint der Kerl mit "there"? Wo ist "over the hills"?

"Time Out Of Mind" wurde produziert, bevor Dylan vor einigen Monaten an einer lebensgefährlichen Herzinfektion erkrankte. Aber es gibt ja die medizinische Theorie, wonach Menschen, kurz bevor sie erkranken, schon etwas davon spüren oder ahnen. Bevor ein EKG Auffälligkeiten aufweist, hat so mancher mit dem Rauchen aufgehört, um Wochen oder Monate später einen Herzinfarkt zu erleiden. Mystischer als Dylans Werk sind diese Theorien bestimmt nicht, und es wäre schon verwunderlich, wenn ausgerechnet Dylan einer wäre, der nicht bemerkt hätte, wie es um ihn steht. Noch verwunderlicher wäre es freilich, wenn sich Dylans ahnungsvolle Selbstdiagnose nur auf sich selbst bezöge.

Er habe vor, "bekannter zu werden als Elvis Presley", soll der junge Dylan einmal gesagt haben. Prominenter als Elvis ist er nicht geworden, wichtiger schon. Nach seiner Herzkrankheit sagte Dylan: "Ich glaubte schon, ich würde demnächst Elvis sehen."

Merkwürdige Ahnungen hat der Mann. Das Altwerden stellt er sich in einem von Neil Young beschallten Gefängnis vor. Und im Himmel rechnet er damit, Elvis zu begegnen.

Zu allem Überfluß scheint ihm, dem 1941 als Sohn jüdischer Kaufleute geborenen Robert Zimmerman, der zwischendurch von jedem Glauben abfiel, dann auf christlich machte, und, als er wieder bei seinem jüdischen Background angelangt war, ausgerechnet Ende September dieses Jahres beim Papst auftrat, der Himmel, in dem auch der dicke Elvis schon gelandet ist, gar nicht so leicht erreichbar zu sein.

"Tryin' To Get To Heaven" ist das fünfte Stück der neuen CD, und es ist ähnlich schwermütig wie die anderen. Von Muddy Waters singt er da, den er wohl im Himmel treffen wird, und macht dazu auch Blues- und Gospelanleihen. "I had to leave in a hurry", singt er an einer Stelle, und ein anderes Mal gibt er erstaunlich melodiös, als habe er an diesem Gedanken Gefallen, diesen privat-apokalyptischen (oder sagt man da bloß: pessimistischen?) Satz von sich: "When you think, that you lost everything, you find out, you always can loose a little more". Dylan hockt resigniert in seinem Stuhl und will sich bloß beeilen: "I've been walking through the middle of nowhere, trying to get to heaven before they close the door."

Die New York Times, die anläßlich des Erscheinens der CD ein Interview mit Dylan führte, hat ihn sympathisch-naiv gefragt, wer denn die Frau sei, die Lied für Lied sein Herz gebrochen habe. "Which one? Which song?" gab er lachend zur Antwort und erläuterte: "Ich bin unbeständig, auch zu mir selbst."

Nun weiß man, daß den Interviews mit Dylan - der über nunmehr 35 Jahre Bühnenerfahrung verfügt und sich ebenso lange in der Selbststilisierung übt - wenig Aussagekraft beigemessen werden darf. Wenn er, scheinbar seriös, zu verstehen gibt, daß er unbeständig ist, spricht er eine Platitüde aus und, typisch Dylan, eine, die gerade auf diese CD nicht zutrifft.

"Time Out Of Mind" hat eine Konstante. Es ist, vorsichtig formuliert, der Pessimismus. Man kann es aber auch Todessehnsucht oder Todeserwartung nennen. "It's not dark yet, but it's getting there", singt er, und im Interview bekennt er: "Viele der Songs wurden geschrieben, nachdem die Sonne untergegangen war. Und ich mag Stürme, ich mag es, während eines Sturmes aufrecht zu stehen. Da erlebe ich manchmal sehr meditative Momente, und diese eine Phrase ging mir durch den Kopf: 'Arbeite, wenn der Tag zu Ende geht, weil die Nacht des Todes dann kommt, wenn kein Mensch arbeiten kann'."

Ob das nun wirklich Todeserwartung ist oder doch nur wieder Selbstinszenierung, läßt sich schwer sagen. "Time Out Of Mind" erlaubt beide Interpretationen. Es ist einerseits ein schwermütiges und deshalb großartiges Album, es ist andererseits ein Werk, das mit vielerlei Zitaten aus Dylans früherem Schaffen arbeitet. In "Tryin' To Get To Heaven" wiederholt sich das alte Bild aus "Knockin' on Heavens Door" (1973), in "Highlands" taucht der sentimentale Mann wieder auf, den er in "Sad-Eyed Lady of the Lowlands" (1966) besang. Sein "Dirt Road Blues" erinnert an das "Bringin' it All Back Home"-Album (1965), auf dessen Cover er ja auch schon in einem Wohnzimmer hockend zu sehen war. "Viele Lieder wiederholen", hat die New York Times beobachtet, "die Akkordstrukturen der Sechziger-Klassiker wie 'Ballad Of a Thin Man' und 'Just Like a Woman'". Songs also, die er auf seiner legendären Tournee 1974 zusammen mit The Band intonierte und auf dem Doppelalbum "Before The Flood" verewigte.

Aus den Sechzigern stammt auch "It's Allright, Ma (I'm Only Bleeding)", das Lied, in dem es heißt: "Even the president of the United States sometimes must have to stand naked." Solche Zeilen findet man beim melancholischen Dylan des Jahres 1997 nicht mehr.

Als Dylan beim Nationalen Eucharistiekongreß auftrat, um vor dem Papst ein paar seiner Lieder zu spielen - das Publikum soll eher kühl reagiert haben -, schwang sich der Papst dazu auf, Dylans bekanntestes (und wirklich schlechtestes) Werk, "Blowin' in the Wind", einer Meditation zu unterziehen. Die Antwort, so der Papst, wisse in der Tat der Wind, "der Wind, der Atem und Leben des Heiligen Geistes ist, der Stimme, die ruft: 'Komm!' Ihr habt mich gefragt: 'Wie viele Straßen muß ein Mann gehen, bevor er ein Mensch wird?' Ich sage euch: Eine! Es gibt nur einen Weg für die Menschheit, und das ist Christus, der sagte, 'Ich bin das Leben!'" Der Erzbischof von Bologna, Kardinal Giacomo Biffi, kündigte noch weitere "direkte Kontakte" zwischen Kirche und Popmusik an. Man darf schon mal gespannt sein, was dem Papst zu "It's Allright, Ma" einfällt.

Das Traurige: Im Künstler Bob Dylan verstärkt sich die Todeserwartung, die verquere Sehnsucht nach dem Himmel, den er sich als mit Elvis, Muddy Waters und dem Papst gefüllt vorstellt; die diffuse Religiosität, die ihn seine alten Lieder als "mein Lexikon und mein Gebetbuch" beschreiben und "an einen Gott der Zeit und des Raumes" glauben läßt. "Tryin' To Get To Heaven" singt er, und es scheint, in den Himmel will er auf jeden Fall. Damit das auch klappt, sichert er sich überall noch mal ab, zur Not auch beim Papst, der zum selben Termin auch Andrea Bocelli ("Time To Say Good-Bye") eingeladen hatte.

Dylans Konzerte laufen schon seit Jahren unter dem Label "The Never Ending Tour". Das letzte Lied dieser CD, vorgetragen im stetigen Bluesrhythmus, dauert 17 Minuten. Das ist also die pessimistische Interpretation: Dylan nimmt Abschied.

Es könnte aber natürlich auch alles ganz anders sein. Seit 1990 hatte Dylan keinen eigenen Song mehr vorgetragen, in den Konzerten seiner "Never Ending Tour", auch beim Papst-Konzert, das drei Tage vor der Veröffentlichung der CD stattfand, hat er nur alte Stücke gespielt. Jetzt, so könnte die optimistische Interpretation lauten, beginnt etwas ganz Neues. "Over the hills and far away, there's a way to get there and I figure it out somehow. But I'm already there in my mind, and that's good enough for now", heißt es schließlich in "Highlands". Und wo "there" ist, weiß weder Dylan noch der Papst.

"Dylan lives" hat Newsweek getitelt, Dylan selbst hat einmal gesagt: "The longer you live, the better you get", und "Forever young" (1974) stammt ja wohl auch von dem Jungen mit der Mundharmonika.

Bob Dylan: Time Out Of Mind. Columbia / Sony Music Entertainment