Potemkinsche Diskussionskultur

Die Grünen mußten einen Streit um die Wirtschaftspolitik inszenieren, weil es wirkliche Differenzen nicht mehr gibt

Hitzig wird, so hört man von den Grünen, in diesen Tagen deren Programm für die Bundestagswahl im Oktober 1998 diskutiert. Nach einer Reihe sogenannter Programmratschläge, deren letzter in den ersten Novembertagen in Hannover stattfand, steht der Entwurf nun zumindest in groben Konturen fest. Das Vorspiel hatte ein innerparteilicher Schlagabtausch gebildet, der in seiner Schärfe an die alten Tage erinnerte, als Realos und Fundis sich spinnefeind waren: Für und wider Abschaffung oder Erweiterung der Nato hatte man sich in den Haaren, um die Truppenstärke der Bundeswehr ging es, um sogenannte friedensschaffende bzw.

-erhaltende Militäreinsätze, und außerdem, so war zu hören, um die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nachdem mittlerweile beide Seiten in der angeblich so erbittert geführten wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung ihre Karten auf den Tisch gelegt haben, weiß man: Wenn jemals sehr erbittert gestritten wurde, dann kann es kaum um Inhalte gegangen sein.

Kaum war der Ratschlag von Hannover vorüber - es hatte sich die Linie des Parteivorstands durchgesetzt, mithin das, was als "die linke Position" bezeichnet wurde -, reagierte die Gegenseite: In der sozialdemokratischen Frankfurter Rundschau erschien ein wirtschaftspolitisches Papier des ehemaligen Stadtkämmerers von Frankfurt, Tom Koenigs. Schon der Titel seines Papiers "Die Entdeckung des Marktes" suggerierte einen Wertewandel: Als ob die Grünen bislang ein allzu distanziertes Verhältnis zur Marktwirtschaft gehabt hätten. Für das Parteivolk war die Botschaft dennoch klar: Demokratische Diskussionsprozesse um das Programm hin oder her, die Parteirechte beharrt auf ihren Positionen.

Das Koenigs-Papier sollte ein Paukenschlag werden. Doch der Schlag verhallte. Der größtmögliche Unfall war geschehen: Über weite Strecken glichen sich beide Papiere bis ins Detail. Der Backbord- wie der Steuerbord-Flügel der Grünen will in erster Linie "kleine und mittlere Informationsfirmen mit Schwerpunkt im Dienstleistungsbereich" (Koenigs) gewinnen, schließlich trügen "kleine und mittlere Unternehmen zu einer breiten Verteilung von Macht, Verantwortlichkeit, Eigentum und Risiko in der Wirtschaft bei. Sie fördern durch ihre Vielzahl den Wettbewerb und das Innovationsklima" (Programmentwurf). Doch "neue Produkt- und Dienstleistungsideen", beklagen die Autoren des Programmentwurfs, können kleine und mittlere Unternehmen "häufig aus Mangel an Eigenkapital nicht umsetzen. Um die Finanzierungsbedingungen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen als Träger von Innovationen und Arbeitsplätzen zu verbessern, ist der Aufbau eines funktionsfähigen privaten Risikokapitalmarktes besonders wichtig." Zustimmung aus Hessen: "Um kleine und mittlere Betriebe zu fördern", heißt es bei Koenigs, "wollen die Grünen eine steuerliche Entlastung der Bildung von Eigenkapital (...) Sie fordern eine Erleichterung des Börsenzugangs und eine Verbesserung des Zugangs zu Chancenkapital."

Im Bereich der Wirtschaftspolitik wird es übrigens auch mit der SPD wenig zu verhandeln geben, sollte es im Herbst 1998 zur rot-grünen Koalition auf Bundesebene kommen. Streiten wird man sich natürlich darum, welche Technologien gefördert werden sollen: "Das Beharren auf alten Risikotechnologien - wie der Atomkraft - und die Entfesselung neuer - wie der Gentechnologie", heißt es im Grünen-Entwurf, "führen ebenso in eine Sackgasse wie der Abbau von Bürgerrechten in Genehmigungsverfahren." Schröder haut dagegen auf die Pauke: "Die Bio- und Gentechnologie ist eine Basisinnovation mit vielfältigen neuen Produkt- und Beschäftigungschancen." Koenigs schweigt sich zu den Reizthemen Gen und Atom ganz aus. Damit geriert er sich weniger grün als Schröder, bei dem es immerhin noch heißt: "Die SPD bleibt bei der Ablehnung der zu risikoreichen Atomkraft."

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen - von der "Beteiligung der Beschäftigten am Produktivvermögen" über Privatisierungen bis zur Flexibilisierung der Arbeitszeit - nirgends eckt das Koenigs-Papier am offiziellen Programmentwurf an. Wenn dies das Wahlprogramm der Grünen werde, dann setzten sich "sozialdemokratische Positionen pur" durch. Der Programmentwurf, sollte das heißen, lasse es immer noch an dem fehlen, was Fischer unter Realismus versteht. Sicher werden sich die Trittins, Volmers und Beers mit den Fischers, Koenigs und Schlauchs noch in den Haaren liegen, was den außenpolitischen Teil des Papiers angeht. Doch was den Gesellschaftsentwurf betrifft, der im wirtschaftspolitischen Programm zum Ausdruck kommt, unterscheiden sie sich nicht.