»Staatsfeind Nummer 1« vor Gericht

In Paris begann der Prozeß gegen Illich Ramirez Sanchez alias Carlos

Seit Freitag, dem 12. Dezember 1997, wird in Paris dem ehemaligen internationalen Terroristen "Carlos" der Prozeß gemacht, den der französische sozialistische Innenminister Gaston Deferre 1982 als "Staatsfeind Nummer 1" bezeichnet hatte. Mit bürgerlichem Namen heißt der Mann Illich Ramirez Sanchez - seinen Vater, wohlhabender Rechtsanwalt in Venezuela, war zugleich gläubiger Leninist und taufte seine drei Söhne nacheinander - nach dem russischen Revolutionsführer - Wladimir, Illich und Lenin. Das doppelte Familienerbe, das ihm in die Wiege gelegt wurde - das Leben im Luxus und ein bestimmtes Verständnis von Kommunismus, in dieser Form Rechtfertigungsideologie für eine potentielle oder faktische Modernisierungselite in einem Trikont-Land - sollte seine weitere Laufbahn bestimmen.

Im Alter von 15 Jahren wurde der spätere Carlos in der venezolanischen kommunistischen Jugend aktiv. Zwei Jahre später, 1966, trennten sich seine Eltern, und der Junior lebte fortan mit seiner Mutter in London. Durchs Abitur gerauscht, wurde er 1968 nach Moskau auf die Patrice-Lumumba-Universität geschickt, wo damals zahlreiche Elitesprößlinge wie auch "antiimperialistische Kämpfer" aus diversen Teilen der sogenannten Dritten Welt studierten. Doch nach zwei Jahren wurde Illich Ramirez Sanchez, wegen "ausschweifenden Lebensstils", von der Uni geworfen. Daraufhin suchte er sich als 21jähriger eine "Sache", die er an der Seite der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) fand, deren Anhänger er in Moskau kennengelernt hatte. Die PFLP wurde ursprünglich von jungen Bewunderern des deutschen Nationalsozialismus um den Palästinenser George Habbasch, den Syrer Hani al-Hindi und den kuwaitischen Staatsbürger Ahmed al-Khatib gegründet. Sie standen in der Traditionslinie arabischer Nationalisten, die während des Zweiten Weltkriegs in Nazideutschland einen Verbündeten im Kampf gegen den britischen Kolonialismus sahen, unter dem die jüdische Immigration in Palästina einsetzte. In den siebziger Jahren legte die PFLP sich, im von antikolonialen Kämpfen geprägten Geist der Zeit, einen marxistisch klingenden Diskurs zu.

Carlos verließ daher Moskau in Richtung Naher Osten, kehrte aber zugleich häufig in seinen ehemaligen Wohnort London zurück, wo er 1973 und 1974 mutmaßlich zwei Anschläge auf israelische Banken beging (einige Angestellte wurden durch eine Handgranate verletzt). Die folgenden Jahre verbrachte er überwiegend in den Staaten des östlichen Europa, die ihm - als Mitglied des "antiimperialistischen Lagers" - Rückendeckung boten. Zugleich bereiste er regelmäßig den Nahen Osten, wo er faktisch als Söldner für eine Reihe diktatorischer Regime wie den Irak Saddam Husseins und später Syrien kämpfte. Seine Spuren kreuzten dabei die deutscher Antiimperialisten, mit Magdalena K. aus der BRD lebte er 13 Jahre zusammen. Als K. und dem gemeinsamen Schweizer Freund Bruno Bréguet 1982 in Frankreich der Prozeß gemacht wurde, begann Carlos eine Art Privatkrieg gegen den französischen Staat, um die beiden freizupressen. Bei einer Reihe von Anschlägen kamen 1982 elf Menschen ums Leben. K. kam zwei Jahre später frei und heiratete Carlos.

Der Terrorist wurde jedoch Opfer des Zusammenbruchs des Ostblocks, der zahlreiche nahöstliche Staaten - darunter Syrien, für dessen Verteidigungsminister Carlos in Diensten stand - ab dem Golfkrieg 1991 an die Seite der USA trieb. Carlos wurde wie eine heiße Kartoffel fallengelassen und ging in den von islamischen Fundamentalisten regierten Sudan. Mittlerweile war er zum Islam konvertiert. Das Regime in Khartoum zog jedoch die militärische Hilfe der Franzosen - gegen die Rebellen im Süden des Landes - vor und lieferte im Gegenzug gegen Waffen und Militärberater im August 1994 Carlos dem Pariser Geheimdienst DST aus. Als einziger Freund blieb ihm der Schweizer Nazibankier Fran ç ois Genoud, der diverse arabische nationalistische Bewegungen - darunter die PLFP - finanziert hatte und Carlos in der Haft besuchte. Genoud beging 1996 als 80jähriger Suizid.

Anläßlich des Prozeßauftakts hatte Carlos nunmehr ausführlich Gelegenheit, nach 40 Monaten Isolierung in der Haftanstalt seine politischen Ideen öffentlich zu entwickeln. Er hat seine Verteidigung selbst in die Hand genommen, seine drei AnwältInnen sind zunächst auf eine Statistenrolle verwiesen. Dem Gericht versichert er: "Das Gerichtsmilieu ist mein soziales Milieu. Als ich ein Kind war, spielte ich mit den Töchtern von Anwälten und Richtern. Als ich groß war, spielte ich mit ihren Ehefrauen." Um sich im nächsten Atemzug über die Qualitäten der weiblichen Geschworenen auszulassen. Zur Person: "Mein Beruf: Berufsrevolutionär in der alten leninistischen Tradition. Wohnort: die Welt..." Nach den Formalia spricht Carlos einigen politischen Persönlichkeiten seine Ehrerbietung aus. Reichlich zusammenhanglos zwar, aber es fällt auf, daß er sich dabei fortlaufend auf Personen oder Gruppierungen bezieht, die - auf unterschiedliche Weise - auf der politischen Rechten stehen. So ehrt er General de Gaulle, "einen großen Mann", macht undurchsichtige Ausführungen über den Nazi-Kollaborateur Marschall Pétain und empört sich über den Prozeß gegen Maurice Papon, der gegenwärtig wegen der Organisierung von Judendeportationen in den Jahren 1942 bis 1944 in Bordeaux vor Gericht steht.

Schließlich bezieht er sich positiv auf den rechtsextremen Front National (FN). Denn "die nationale Rechte", so der Ex-Terrorist, habe im Jahr 1986 im französischen Parlament als einzige Partei (für Carlos eine positive "Ausnahme") gegen das Gesetz gestimmt, das den Opfern terroristischer Attentate in der Bevölkerung ein Recht auf Entschädigung vom Staat sowie ein eigenes Klagerecht einräumt.

Tatsächlich hatten die rechtsextremen Abgeordneten in jenem Jahr, dessen Herbst von einer blutigen Attentatswelle wahrscheinlich iranischer Terroristen in Paris geprägt war, gegen diese Gesetzesvorlagen des damaligen Innenministers Charles Pasqua gestimmt - jedoch zu dem Zweck, sich aus einem "nationalen Konsens" herauszuhalten und sich zugleich an dem Konservativen Pasqua zu rächen. Denn dieser hatte im Frühjahr desselben Jahres das Mehrheitswahlrecht wiedereingeführt und den FN damit vor die Wahl gestellt, entweder nach der nächsten Wahl aus dem Parlament zu verschwinden oder in einem Wahlbündnis mit der bürgerlichen Rechten aufzugehen und sich jener unterzuordnen. Der FN hatte sich damals für den Bruch mit dem konservativen Lager entschieden - und gleichzeitig eine lautstarke Kopf-ab-Kampagne unter dem Motto "Todesstrafe für Terroristen!" durchgeführt.

Zugleich stürzt Carlos sich in dem Prozeß auf die Zivilklagepartei SOS Attentats, die eine Reihe von Opfern diverser terroristischer Anschläge betreut und eine schillernde Mischung aus Rechtshilfe, Opferberatung und Law and Order-Forderungen vertritt. Gezielt attackiert er die jüdischen Anwälte der Vereinigung, Francis Szpiner und Jean-Paul Lévy: "Ihr, die Zionisten, die Revisionisten, ihr schüchtert ein, ihr könnt euch erlauben, Quatsch zu reden. Bis in die siebziger Jahre war Frankreich ein Asylland, aber heute glauben die Zionisten, ihnen sei hier alles erlaubt. Mit einem einzigen Ziel, dem Imperialismus der USA, der Hegemonialmacht, die niemand bestreiten kann - sonst wird man als Faschist, als Antisemit behandelt. Ich werde die zionistischen Mythen attackieren. Der, so Carlos, "revisionistische Zionismus" sei "das Krebsgeschwür der Menschheit". Dem Rechtsanwalt Szpiner - "zionistischer Aktivist" - spricht er das Recht ab, im Namen der Opfer von ihm begangener Anschläge zu sprechen: "Ich bin empört, weil man zynisch die Opfer der Attentate ausbeutet; man benutzt diese Methoden, um die öffentliche Meinung gegen die heilige palästinensische Sache zu kehren."

Der Prozeß gegen ihn? "Eine Manipulation des Mossad mit der Komplizenschaft hoher französischer Beamter." Das Gericht? Das habe keine Kompetenz, über ihn zu richten, da er im Sudan illegal entführt worden sei - was als Faktum zutrifft. Unterdessen warten auf Carlos fünf weitere Prozesse wegen Attentaten mit einer Reihe von Todesopfern, die er zwischen 1974 und 1983 auf französischem Boden begangen haben soll.