Historischer Kompromiß

Kaum zum Präsidenten gewählt, sorgt der "ewige Dissident" Kim Dae Jung für die Amnestie der Ex-Diktatoren. Ein "Notstandskomitee" soll Südkorea vor dem Bankrott bewahren

Südkoreas Wahlsieger Kim Dae Jung wird den Präsidentenposten zwar erst am 25. Februar übernehmen, hat aber seine erste Amtshandlung bereits getätigt: Nur zwei Tage, nachdem amtlich war, daß der Oppositionelle aus dem Urnengang vom 18. Dezember letzten Jahres als Sieger hervorgegangen ist, wurde eine Begnadigung verurteilter Militärs bekannt gegeben. Die Freilassung der 25 Inhaftierten erfolgte formell zwar durch den noch amtierenden Präsidenten Kim Young-sam, doch dessen designierter Nachfolger und Namensvetter Kim Dae Jung betonte ausdrücklich, er unterstütze diese Entscheidung voll und ganz.

Als "Zeichen der Versöhnung" bezeichnete der 73jährige Wahlsieger insbesondere die Freilassung der früheren Präsidenten Chun Doo-Hwan und Roh Tae Woo. Als Regimekritiker war Kim 1980 von der Regierung des Putschgenerals Chun Doo-Hwan für die militanten Aufstände in Kwangju verantwortlich gemacht und deshalb zum Tode verurteilt worden. Die Strafe wurde zunächst in lebenslänglich umgewandelt, um nach zwei Jahren Haft aufgehoben zu werden. Im August 1996 wurde auch Chun wegen der Vorfälle in Kwangju zum Tode verurteilt - weil das Gericht es für erwiesen hielt, daß der 65jährige dem dortigen Ortskommandanten Chung Woong eine militärische Niederschlagung des Aufstands befohlen hatte. Rund 200 Menschen wurden so nach offiziellen Angaben im Mai 1980 getötet; oppositionelle Kreise geben die Zahl der Getöteten mit 2 000 an. Auch Chuns Strafmaß wurde zunächst in lebenslänglich umgewandelt, seit dem 22. Dezember ist er wieder auf freiem Fuß. Mit ihm auch sein Nachfolger General Roh Tae Woo, der zwischen 1988 und 1993 südkoreanischer Präsident war. Ebenfalls im August 1996 war Roh wegen Korruption, Rebellion, Landesverrat und Mord zu 22 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Protestaktionen gegen diese Entscheidung wurden von der Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas beendet.

Mit der Amnestie für die ehemaligen Militärherrscher will sich Kim, der sich zuvor bereits dreimal vergeblich um den Präsidentenposten bemüht hatte, "der nationalen Versöhnung und Einheit widmen". Denn mit 40,3 Prozent lag er nur etwa anderthalb Prozentpunkte vor Lee Hoi-chang, den Kim Young-sam sich als Nachfolger ausgewählt hatte. Lee hatte bereits alles für seinen Einzug ins Blaue Haus, den Präsidentenpalast in Seoul, vorbereitet: Um sich von der durch Korruptionsskandale geprägten Politik Kim Young-sams abzugrenzen, wurde die Partei Neues Korea (NKP) kurzerhand in Partei der Großen Nation umbenannt. Schon Roh Tae Woo hatte sich mit einer Parteiumbenennung die Nachfolge Chuns gesichert, aus dessen Partei machte dann der ehemalige Regimekritiker - und als solcher auch früherer Kampfgefährte Kim Dae Jungs - Kim Young-sam die NKP. Doch Lee scheiterte, und damit ist Kim Dae Jung der erste Oppositionskandidat, der seit Gründung der Republik Korea die Präsidentenwahl gewonnen hat.

Die Situation dafür könnte allerdings nicht ungünstiger sein. Südkorea ist weit davon entfernt, eine der sieben stärksten Ökonomien weltweit zu werden. Bis zum Jahre 2005 sollte die Tiger-Republik Kim Young-sam zufolge dieses Ziel erreicht haben. Momentan steht sie kurz vor dem Bankrott. Zum Jahreswechsel betrug die Auslandsverschuldung nach Regierungsberichten umgerechnet mehr als 275 Milliarden Mark, etwa drei Fünftel davon müßten kurzfristig - bis Anfang März dieses Jahres - zurückgezahlt werden. Dabei hatte das Finanzministerium am 11. Dezember die Devisenreserven des Landes mit nur knapp 18 Milliarden Mark beziffert. Kaum über die reale wirtschaftliche Situation des einstigen Musterländles in Kenntnis gesetzt, zeigte sich der zukünftige Präsident gegenüber der koreanischen Tageszeitung Chosun Ilbo entsetzt: Wegen der wirtschaftlichen Probleme könne er nicht mehr ruhig schlafen. Südkorea, plauderte Kim Dae Jung sogleich aus, könne "heute oder morgen" bereits zahlungsunfähig sein. Dadurch beeinflußt, erreichte die Landeswährung Won am 23. Dezember ihr bisheriges Rekordtief: Zeitweise wurden an Seouler Devisenmarkt 20 670 Won pro US-Dollar verlangt. Noch im Oktober letzten Jahres war die begehrte US-Währung für rund 900 Won zu haben.

Angesichts dessen mobilisieren Noch-Staatschef Kim und sein designierter Nachfolger alle Kräfte zur "Rettung der Nation". So soll die Bevölkerung des Landes durch die Herausgabe ihres Privatgoldes das Land vor einer "nationalen Schande", dem abgeblich drohenden Verlust der Souveränität, retten. Einen entsprechenden Aufruf verbreitet das staatliche Fernsehen seit Jahresbeginn. 2 000 Tonnen des Edelmetalls hofft man so aus den Schmuckkästchen der Bevölkerung zur Stützung des Won zu ziehen. Als "vorbildlich" erwies sich bereits die Belegschaft des Samsung-Konzerns: Sie lieferte Gold im Gegenwert von über 740 000 Mark ab - meist von Samsung verliehene Auszeichnungen oder Medaillen für besonders eifrige Arbeiter. Außerdem vereinbarten die beiden Kims am vergangenen Wochenende die Einsetzung eines zwölfköpfigen "Notstandskomitees". Dieses soll die Arbeit der bisherigen Finanzsonderbotschafter in Washington und Tokio übernehmen, um die Kreditwürdigkeit des Landes wieder zu erreichen.

Für viele Südkoreaner hat das Ausland die Finanzkrise des Landes verschuldet. Insbesondere der Internationale Währungsfond (IWF) gilt als Schreckgespenst, da er seine Kreditzusagen mit knallharten Auflagen verbindet. So sägt das Finanzgremium an einem Gesetz aus den siebziger Jahren, das den Unternehmen Massenentlassungen untersagt. Einst von den Militärherrschern zur Schaffung eines nationalen Konsens verabschiedet, steht die Vorschrift nun der von IWF geforderten Neustrukturierung des Banken- und Finanzwesens entgegen - Fusionen sollen nicht nur ermöglicht, sondern bei starker Verschuldung auch durch die Regierung angeordnet werden können. Kim Dae Jung hat Entlassungen bereits als "unvermeidbar" bezeichnet. Ende Dezember beschloß das Parlament Südkoreas außerdem, die Geldinstitute künftig stärker zu kontrollieren, auch dürfen ausländische Aktionäre fortan 55 statt 50 Prozent der Anteile an südkoreanischen Unternehmen besitzen. Ab April dieses Jahres soll der Wertpapierverkauf dann keinerlei Beschränkungen mehr unterliegen.

Eine drastische Verschlechterung der Situation in allernächster Zukunft befürchtet auch die Konföderation Koreanischer Gewerkschaften (KCTU), ohne sich allerdings darüber einig zu sein, wie darauf reagiert werden solle. Die erwartete Konkurswelle südkoreanischer Firmen in den kommenden Monaten dürfte eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten bedeuten. Ein Teil der Organisation plädiert fortgesetzt für eine radikale und gegebenenfalls auch militante Opposition gegen Regierung und Wirtschaft. Da mit einer Entlassungswelle zu rechnen ist (momentan liegt die Arbeitslosenrate bei etwa zwei Prozent), die seit 1995 bestehende Arbeitslosenversicherung aber wenig Auffangmöglichkeiten bietet und betriebsunabhängige Renten nahezu unbekannt sind, dürfte sich die soziale Lage noch verschärfen und eine neue Streikbewegung entstehen. Zuletzt hatte der Gewerkschaftsverband Anfang 1997 gegen ein neues Arbeitsgesetz zum Ausstand gerufen. Solange die boomende wirtschaftliche Entwicklung vor allem auf harten Arbeitsbedingungen basierte, gab es für beide Seiten kaum eine Kündigungsmöglichkeit. Da dies sich auch für Unternehmer als Nachteil erweisen kann, wurde mit der Novellierung des Arbeitsrechts eine "konjunkturabhängige Beschäftigung" sowie der Rausschmiß von Arbeitern ermöglicht.

Ein anderer Teil des Gewerkschaftsverbandes tendiert hingegen zu einer bedingten Zusammenarbeit mit der Regierung. Nationalismus und die Angst vor einem "Souveränitätsverlust" einen das Land. So ist auch Kwon Young-kin von der KCTU einer gewissen Kooperation mit den regierenden politischen Kräften nicht unbedingt abgeneigt. Als linker Kandidat hatte er bei den Präsidentenwahlen landesweit nur 1,2 Prozent erreicht, sein bestes Ergebnis erzielte er im industrialisierten Ulsan mit 6,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Eigentlich hatte Kwon ein landesweites Ergebnis von drei Prozent angestrebt. Seine Kandidatur wird dennoch als Erfolg gewertet, weil sie es ermöglicht hätte, eine landesweite Struktur und Koordination von linken gewerkschaftsnahen Gruppen aufzubauen. Denn man ist sich durchaus bewußt, daß Kim Dae Jung - den Militärs einst als Sprachrohr der Gewerkschaftsbewegung verhaßt - seinen Kompromiß mit den herrschenden Eliten geschlossen hat. So hat er im Wahlkampf den Industriellen Park Tae Joon als Wirtschaftsfachmann an seiner Seite gehabt, der vermutlich auch einen entsprechenden Ministerposten erhalten wird.

Verbündet hat sich Kim auch mit Kim Jong-pil, dem Parteivorsitzenden der "Vereinigten Liberalen" (ULD), der einst Kim Young-sam als "Verräter" bezeichnete, als dieser sich von General Roh Tae Woo abgrenzte. Kim Jong-pil, der vermutlich das Amt des Ministerpräsidenten bekommen wird, hatte denselben Posten schon unter dem von 1961 bis 1979 regierenden Militärherrscher Park Chung Hee inne. Außerdem gründete er den koreanischen Geheimdienst KCIA mit und soll 1973 maßgeblich an einer Entführung und versuchten Ermordung Kim Dae Jungs beteiligt gewesen sein. Eine parlamentarische Mehrheit hat Kim Dae Jung damit aber lange noch nicht. Seine Partei, der Nationale Kongreß für neue Politik, verfügt mit der ULD zusammen nur über 120 der insgesamt 299 Sitze.

Während südkoreanische Finanzhäuser und Unternehmen befürchten, daß künftig auch ausländische Firmen große Gewinne aus dem Tigerstaat herausholen werden, sind auch deutsche Banken angesichts der asiatischen Finanzkrise um die Rückzahlung ihrer hohen Kredite besorgt. Knapp 18 Milliarden Mark haben sie der Region zur Verfügung gestellt. Das Handelsblatt stellt dazu fest: "Daß deutsche Banken mit ihren Ausleihungen zwar hinter den japanischen, jedoch vor den großen US-Banken marschieren, hat besonders überrascht." Bemerkbar machen könne sich das bei der Dresdner Bank und der Commerzbank, behauptet die Zeitung unter Berufung auf Börsenspezialisten.