Peenemünde in Nahost

Deutsche Wissenschaftler entwickeln Mittelstreckenraketen für Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi

Die spannendsten Romane schreibt immer die Wirklichkeit selbst. In Frederick Forsyths "Akte Odessa" ist die Jagd eines jungen Reporters nach dem Mörder seines Vaters zwar völlig frei erfunden, aber der Hintergrund des Thrillers ist authentisch und beruht auf Informationen, die der Autor zuvor von Simon Wiesenthal erhalten hatte. Demnach hatten der gesuchte Mörder und andere Altnazis eine weltweite Nachfolgeorganisation der SS, die Odessa ("Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen"), gegründet und mehrere hundert Wissenschaftler zusammengeführt, die den seit 1954 regierenden ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abd Nasser beim Bau von Vernichtungswaffen gegen Israel unterstützen sollten.

Heute, 30 Jahre später, kann die "Akte Odessa" immer noch nicht geschlossen werden. Sowohl Saddam Hussein als auch Muammar al-Gaddafi können beim Versuch, Raketen zur Bedrohung von Tel Aviv und Jerusalem zu entwickeln, auf die Anfang der sechziger Jahre geknüpften Verbindungen zurückgreifen.

Ihre Mad Scientists rekrutierte Odessa aus jenen Waffenspezialisten des Nazi-Staates, die - im Unterschied zu der Gruppe um Wernher von Braun - nicht in die USA gegangen waren. Eugen Sänger, Ferdinand Brandner, Paul Goercke und Wolfgang Pilz hatten in Peenemünde und anderen Versuchsstätten an "Wunderwaffen" wie der V2 oder dem "Projekt Wasserfall" gearbeitet. Sänger hatte in Stuttgart ab 1954 mit staatlicher Hilfe das "Forschungsinstitut für die Physik der Strahlantriebe" (FPS) aufgebaut, dort führte er die Entwicklungen aus der NS-Zeit fort. 1959 traf sich die ganze Crew in Ägypten wieder, hinzugekommen waren außerdem der Flugzeugbauer Willy Messerschmitt, ein komplettes Forschungsteam von Mercedes-Benz und - für die medizinische Betreuung - der ehemalige KZ-Arzt und gesuchte Kriegsverbrecher Hanns Eisele. Einige lockte das lukrative Honorar, die Raketentechniker um Brandner jedoch sahen - so der Spiegel - "in Nasser den Mann, der Hitlers Kampf gegen die Juden fortsetzt." Die israelische Regierung schlug Alarm. Arbeitsminister Allon erklärte: "Die Überlebenden der deutschen Todeslager werden nicht tatenlos zusehen, wie deutsche Neonazis im Dienst des Diktators in Kairo die Vernichtung Israels vorbereiten." Gegen die Deutschen wurde der Mossad aktiv, Entführungen und Bombenanschläge mit Toten und Verletzten ließen die Begeisterung der insgesamt 500 Wissenschaftler merklich abkühlen. 1963/64 traten sie den Rückzug an.

Willy Messerschmitt blieb im Geschäft. Durch Zusammenschluß seiner Firma mit anderen entstand der führende deutsche Luft- und Raumfahrtkonzern "Messerschmitt-Bölkow-Blohm" (MBB), heute Teil des Daimler-Benz-Imperiums. MBB war in Saddam Husseins Raketenzentrum Mossul bis zur Golfkrise 1990 für die "main technology" zuständig und dort, sogar nach der eher beschwichtigenden Aussage des damaligen Wirtschaftsministers Helmut Haussmann, der "wichtigste Unterlieferant". Wichtiger noch: MBB hatte zusammen mit Argentinien seit 1978 die Mittelstreckenrakete Condor entwickelt. Nach zahllosen Demarchen des CIA zog sich MBB sieben Jahre später offiziell zurück - gleichwohl wurde das Projekt von Top-Wissenschaftlern des Konzerns mittels der Briefkastenfirma Consen weitergeführt. Condor-Fabriken entstanden schließlich auch in Ägypten und im Irak. Zwar war diese modernisierte V2 bei Beginn des Golfkrieges 1991 noch nicht einsatzreif, die "Fitneßkur für Scud-B" (Spiegel) als Spin-Off-Effekt der Kooperation war jedoch gefährlich genug.

Nach dem Golfkrieg begannen in Deutschland Strafverfahren wegen Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz gegen Kleinfirmen wie die hessische WET (Giftgas) oder die westfälische H+H-Metallform (Spezialstähle für Urananreicherung), die mit mehrjährigen Freiheitsstrafen für die Angeklagten endeten. Im Gegensatz dazu wurde der Consen-Prozeß unauffällig abgewickelt. Ganz diskret wurde schon im September 1992 ein außergerichtlicher Vergleich ("Haftstrafen gegen Geldbuße zur Bewährung ausgesetzt") geschlossen und in einer Blitzverhandlung vier Tage vor dem geplanten Prozeßbeginn abgesegnet. "Warum wurde nun die Sitzung vorgezogen, so daß sie, wären nicht ein paar Journalisten durch puren Zufall drauf gestoßen, klammheimlich über die Bühne gegangen wäre? Nun, am Rande der Verhandlung läßt ein Verteidiger durchblicken, daß man 'bei einer Behörde südlich Münchens' die Hände zusammengeschlagen habe, weil die Sache in aller Breite verhandelt werden sollte...", plauderte die Süddeutsche Zeitung die Sorgen der Pullacher BND-Zentrale aus.

Eine andere Verzweigung des Odessa-Netzes führt zu Lutz Kayser, der sich bereits 1957 dem Stuttgarter Raketenteam von Eugen Sänger angeschlossen hatte. Er überführte dessen Patente, Forschungsergebnisse und Fachpersonal Anfang der siebziger Jahre in seine eigene Firma, die Otrag. Ägypten-Veteran Pilz schwärmte: "Die Kayser-Rakete ist das Projekt Wasserfall. Der macht es wie wir in Peenemünde." Mit seinen Plänen für kostengünstige Fernraketen mobilisierte Kayser beträchtliche Unterstützung: Er kassierte mehrere Millionen Mark staatlicher Forschungsgelder, das Finanzamt ermöglichte Investoren die ungewöhnliche Verlustabschreibemöglichkeit in Höhe von 326 Prozent, anonyme Großfinanziers schossen 500 Millionen Mark zu. Woher das Kapital kam? Tad Szulc, ein ehemaliger Korrespondent der New York Times, berichtete unter Bezug auf Geheimdienstquellen, die Otrag sei eigentlich "ein Unternehmen der deutschen Rüstungskonzerne Messerschmitt-Bölkow-Blohm und Dornier". Die Investitionen schienen sich jedenfalls zu lohnen: "Peenemünde in Afrika" jubelte die Nationalzeitung, als 1977/78 die ersten Otrag-Starts in Zaire erfolgten. Dort hatte die Firma ein gigantisches Testgelände von 100 000 Quadratkilometer - etwa die Fläche Österreichs - gepachtet. Die internationale Öffentlichkeit reagierte alarmiert, die OAU warnte vor einer "Aggression gegen die Volksrepublik Angola", das State Department intervenierte. So mußte die Otrag-Kolonie 1979 aufgegeben werden.

Daß Kayser sich danach keineswegs zur Ruhe gesetzt hat, zeigte sich erst kürzlich: Die Behörden der Schweiz und Australiens verhängten 1997 ein Einreiseverbot gegen ihn. Sie beriefen sich dabei auf eine schriftliche Vereinbarung zwischen libyschen Stellen und Kayser, die ihnen der CIA zugespielt hatte. Daraus gehe hervor, daß Kayser an Gaddafis Raketenprogramm arbeite. Der Beschuldigte protestierte: Er sei zwar in Libyen tätig, aber für rein zivile Entwicklungen - sogenannte Atmosphärenkraftwerke zur Nutzung von Solarenergie. Freilich stärkt Kayers früheres Engagement bei Gaddafi nicht gerade seine Glaubwürdigkeit. Als er Ende der siebziger Jahre seine Geschosse auch in der libyschen Wüste ausprobierte, bekannte ein hoher Regierungsbeamter gegenüber dem stern: "Die Otrag hat versprochen, Raketen zu liefern, die auch Atomsprengköpfe tragen können".