Verdrängungsleistung

Das Denkmal für das jüdische Altenheim in Mitte wurde in diesem Jahr schon zum dritten Mal Ziel eines Anschlags, und die Berliner Behörden bemühen sich um Verharmlosung

Ein kleines Denkmal, noch zu DDR-Zeiten aufgestellt, ist in den vergangenen Monaten zum Symbol für das Wiedererstarken des Antisemitismus in Berlin geworden - freilich nur für die, die das wahrhaben wollen. In der Nacht zum 2. Mai wurde das einem Grabstein nachempfundene Denkmal in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte zum dritten Mal in diesem Jahr Ziel eines Anschlages. In nüchternen Worten wird auf der Tafel an das ehemalige jüdische Altenheim erinnert; in den Jahren der Vernichtung diente es als Sammellager für die Berliner Juden: Insgesamt 55 000 Menschen waren hier vor ihrer Deportation in die Lager einige Tage oder Wochen interniert.

Beim ersten Anschlag in der Nacht zum 1. Januar 1998 wurde der Davidstern, der die Tafel ziert, herausgebrochen. Sofort beeilten sich der Berliner Senat und das Bezirksamt Mitte zu erkären, daß es sich hier um einen Einzelfall handele. Stärkere Bewachung wurde angekündigt und eine schnellstmögliche Wiederherstellung. Als sich am 27. Januar rund 30 Menschen aus Anlaß der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am Denkmal trafen, war der Davidstern wiederhergestellt. Einen Monat später, am 27. Februar, sprach die Schriftstellerin Christa Wolf, die sich zuvor in einem Leserbrief an die Berliner Zeitung verwundert über die ausgebliebenen Proteste gegen den Anschlag gezeigt hatte, vor etwa 100 Leuten auf einer Gedenkveranstaltung des Bezirksamtes, mit der das Denkmal offiziell für wieder instandgesetzt erklärt wurde.

In der darauffolgenden Nacht zum 28. Februar wurde das Denkmal zum zweiten Mal Ziel eines Anschlags. Andreas Nachama, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, kritisierte die mangelnden Sicherheitsmaßnahmen seitens der Innenbehörde und der Polizei und warnte vor einem "Umkippen" des Klimas in der Stadt. Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen hielt sich zu dieser Zeit gerade in Israel auf, wo er einer Konferenz über deutsch-israelische Städtepartnerschaften beiwohnte und ließ es sich nicht nehmen, Nachamas Aussagen als "schlicht unbegründet" zurückzuweisen. Auch die Berliner Hauptstadtzeitungen verstanden die Aufregung nicht.

Man wollte sich offensichtlich nicht an die Anschläge auf jüdische Friedhöfe in Berlin und die merkwürdige Reaktion seitens der Polizei und der Senatsinnenverwaltung unter Jörg Schönbohm im vergangenen Jahr erinnern: Im September 1997 waren auf dem jüdischen Friedhof in Prenzlauer Berg Grabsteine regelrecht zertrümmert worden, keine fünf Meter von der unmittelbar angrenzenden Polizeiwache entfernt. Im November waren auf dem jüdischen Friedhof Weißensee gezielt die Grabsteine beschädigt worden, die an die Opfer des Holocaust erinnern sollten - auf dem größten jüdischen Friedhof Berlins, der Tag und Nacht von der Polizei bewacht wird.

Immerhin gelang es mit dieser Verdrängungsleistung, die wenigen Leute, die offensichtlich ihre Besorgnis über die Häufung von Anschlägen zum Ausdruck brachten, als übersensibel und hysterisch erscheinen zu lassen. Nur wenige ließen sich davon nicht beeindrucken. Zwei Wochen nach dem zweiten Anschlag wurde eine Mahnwache ins Leben gerufen, mit der das Denkmal bis zum 9. November - an dem in diesem Jahr des 60. Jahrestages der Novemberpogrome von 1938 gedacht wird - geschützt werden sollte. Von den anfangs 90 Beteiligten waren aber nach kurzer Zeit nur noch fünf übrig.

Allerdings stellte die Polizei nun eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung, die jedoch nach sieben Wochen bereits wieder eingestellt wurde. Kurz danach kam es zum dritten Anschlag, der neben dem Denkmal auch den Utensilien der Mahnwache galt, die zerstört wurden. Dazu kam es ausgerechnet bei einer rekordverdächtig hohen Polizeidichte in Mitte und Prenzlauer Berg in der Nacht zum 2. Mai, und nicht einmal in jener Nacht war eine Bewachung vor Ort - schließlich waren aus Leipzig zurückgekehrte Nazis unterwegs, was der Polizei nicht verborgen geblieben sein dürfte.

Obwohl Innenstaatssekretär Kuno Böse in der taz prophezeite, daß antisemitische Straftaten "in diesem Jahr ansteigen werden", sieht er im Gegensatz zur Jüdischen Gemeinde "keine neue Qualität" des Antisemitismus. Böse reagierte damit auf die von Nachama geäußerte Kritik, der dritte Anschlag sei eine "Armutszeugnis" für Berlin. Daß der Ton der Jüdischen Gemeinde schärfer wird, hängt auch mit der Erfahrung zusammen, daß die Anzahl und die Schärfe der persönlichen Bedrohungen von Mitgliedern der Gemeinde größer wird, während die Polizei eine Hilflosigkeit an den Tag legt, die den zupackenden Ruf der Berliner Beamten Lügen straft. Die Innenverwaltung, die, so Böse, das Problem "keinesfalls herunterspielen" wolle, registrierte 1997 96 antisemitische Straftaten, 1995 waren es noch 79. Ob die Anschläge auf das Denkmal in der Großen Hamburger Straße zur Statistik 1998 gehören werden, ist noch offen, denn es wurden keine Schmierereien hinterlassen, die auf die Motivation der Täter hindeuten. Auch nach drei offensichtlich gezielten Anschlägen mag die Polizei noch nicht über einen antisemitischen Hintergrund mutmaßen. Soviel zu dieser Statistik.

Eine Woche nach dem Anschlag riefen Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaterprojekts "Tiefenenttrümmerung II" zu einer Dauerlesung am Denkmal auf, die das ganze Wochenende dauerte und der sich viele freie Gruppen anschlossen. 63 Stunden lang wurden Texte jüdischer Autorinnen und Autoren zum Holocaust gelesen. Israels Botschafter Avi Primor begrüßte die Aktion und wunderte sich wie schon Christa Wolf zuvor über das Ausbleiben größerer öffentlicher Proteste - bisher regten sich lediglich jüdische und / oder antifaschistische Organisationen und Einzelpersonen, die sich aber noch nicht zu einer gemeinsamen Aktion durchringen konnten.

Außer individuellen Beteiligungen an der Mahnwache und der Lesung gab es bisher keine öffentlichen Reaktionen aus der Linken. Abgesehen davon, daß dies wie immer auch mit dem Ignorieren des Antisemitismus durch die Linke zu tun hat - obwohl sich gerade an diesem Beispiel das Argument, "die Juden" würden vom Staat schon geschützt, als selbst schon antisemitische Legende entlarvt -, hatten die wenigen aktiven Gruppen genug mit den Folgen des 1. Mai zu tun. Daß dieser Anschlag selbst eine der Folgen war, ist erstaunlicherweise bisher nicht wahrgenommen worden. Die zeitliche und räumliche Nähe und die Tatsache, daß an den "Ausschreitungen" zum 1. Mai nicht nur Linke beteiligt waren, werfen die Frage auf, wie Linke reagieren wollen, wenn ihre Aktionen zur Kulisse eines solchen Anschlages gemacht werden. Jedenfalls verbietet sich vor diesem Hintergrund das peinliche Entzücken über die massenhafte Militanz und das Gefühl der Revolte.