Bis hierher und immer weiter

Mit einer außerparlamentarischen Opposition wollen die Initiatoren der "Erfurter Erklärung" Kohl durch Schröder ersetzen und rufen deshalb zur Großdemonstration nach Berlin

Die Gefahr kommt aus dem Osten - auch für den Bundeskanzler. Gerade noch ein Viertel der wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen würden nach aktuellen Umfragen für Helmut Kohl ihre Kreuzchen zeichnen. Daß die Zukunft des Kanzlers in den ostdeutschen Bundesländern verspielt wird, wußten dessen Gegner spätestens, seitdem sich die blühenden Landschaften zwischen Ostharz und Oder bestenfalls als subventionierte Arbeitslosenzonen entpuppten. Schließlich beschränkt sich dort die Akkumulation auf wenige produktive Inseln. Ansonsten dümpelt die durchschnittliche Produktivität und Kapitalausstattung je Arbeitsplatz nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin bei rund 60 Prozent des Westniveaus dahin. Die neuen Bundesländer sind weniger mit den derzeit prosperierenden Exportindustrien in Bayern oder Hessen zu vergleichen, sondern eher mit Andalusien, Irland und anderen Niedriglohnregionen der EU.

"Bis hierher und nicht weiter" titelten daher die 26 Erstunterzeichner der "Erfurter Erklärung" vom 9. Januar 1997, unter ihnen Prof. Elmar Altvater, der Intendant Frank Castorf, der Theologe Friedrich Schorlemmer und der Thüringer Gewerkschaftschef Frank Spieth, ihr sieben Punkte umfassendes Schreiben. Zunächst sollte der "schamlose Aufruf", wie Unionspfarrer Peter Hintze die Absichtserklärung nannte, für Furore sorgen, weil dort die Roten Socken endgültig salonfähig gemacht worden seien. Dabei hatte die Erklärung zumindest offiziell ganz anderes im Sinn: Gegen den Mißbrauch der deutschen Einheit für den "massivsten Umverteilungsprozeß von unten nach oben" waren die Unterzeichnenden angetreten.

Im Zentrum der Kritik stand die Arbeitslosigkeit. "Wenn Notstand an Arbeit herrscht, muß sie neu und gerecht verteilt werden, durch weitere radikale Verkürzungen der Arbeitszeit bei angemessenem Lohnausgleich". Und man setzte auf Bewegung: "Die Erfahrungen von 1968 und der Geist von 1989 sind für 1998 aufgerufen, den Machtwechsel herbeizuführen." Doch jenseits parlamentarisch orientierter Politik war der Aufruf nie so richtig angekommen.

Das soll nun anders werden: An diesem Wochenende will man erstmals für die Ziele der "Erfurter Erklärung" auf die Straße gehen. "Aufstehen für eine andere Politik" möchte das "Aktionsbündnis von Arbeitslosen, GewerkschafterInnen, Studierenden, Basisgruppen, Kircheninitiativen und den TrägerInnen der Erfurter Erklärung" und ruft deshalb zur Demonstration in die Hauptstadt auf. Horst Trapp vom bundesweiten Organisationsbüro ist durchaus optimistisch: "Wir rechnen mit mehreren Zehntausend Menschen", sagte er der Jungle World. Eine regelrechte neue außerparlamentarische Opposition will das Bündnis ins Leben rufen, eine "Apo", die sich jedoch im entscheidenden Punkt von ihrer 30jährigen Vorgängerin unterscheidet: Getreu den Vorgaben aus Erfurt sollen vornehmlich die Chancen für einen angestrebten Farbenwechsel in Bonn durch Druck auf der Straße erhöht werden - eine außerparlamentarische Opposition eben, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die derzeitige parlamentarische Opposition an die Regierung zu hieven.

Daß im Zuge der Kampagne tatsächlich aus der "Zuschauerdemokratie" herausgetreten und "Bürgerengagement" über den 27. September hinaus gefördert werden soll, scheint fraglich. Schließlich widmet sich die "Erfurter Erklärung" auch in Sachen "gesellschaftlicher Aufbruch" vor allem der rosa-rot-grünen Parteienlandschaft. Und ergeht sich in Allgemeinheiten: Von der SPD fordert man "Mut zur Opposition auf ganzer Linie", von den Grünen erwarten die Unterzeichnenden, sie mögen "den begonnenen Weg der Überwindung ihrer 'Ein-Punkt-Kompetenz'" fortsetzen. Die PDS hingegen solle endlich ihre Position zum "historisch gescheiterten Sozialismusmodell" weiter klären.

Beginnt Veränderung also tatsächlich im Kampf der Opposition um die Regierungsmacht? Und wenn, bleiben die Initiatoren der Demonstration eine weitere zentrale Antwort schuldig: Wie soll angesichts der real existierenden ökonomischen Verhältnisse gerade in den neuen Bundesländern eine Politik aussehen, die Arbeitsplätze schafft, ohne die Ausbeutung auf neuem Niveau zu verschärfen?

Weitere Verkürzungen der Arbeitszeit werden da wohl kaum ausreichen. Wahrscheinlicher ist eher, daß zunehmend Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich angesiedelt werden. Hier zeigen die Erfurter unisono mit Walter Riester, Arbeitsminister in spe, einen Weg: Die Forderung der Erklärung zur "Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit" gleicht den Überlegungen Riesters. Dieser hatte vergangenes Wochenende im Berliner Tagesspiegel erklärt, daß Leistungen der Sozialkasse auf Steuermittel umgelegt werden müßten. "Bisher wird die Entlastung des Faktors Arbeit aus Steuermitteln viel weniger freudig diskutiert als die Entlastung des Kapitals". Wie die konkreten Schritte dafür aussehen könnten, verriet der Gewerkschafter bereits vor einigen Wochen. Der Staat soll durch eine "gestaffelte" Übernahme einen Teil der Sozialbeiträge tragen, um auch bei niedrigqualifizierten Bereichen neue Jobs zu schaffen. Das Konzept sei jedoch befristet angelegt, um einen "dauernden Subventionsbestand zu verhindern".

Der Plan hat gute Aussichten auf Erfolg. Auch Unternehmer kommentieren das künftige staatliche Job-Doping wohlwollend. Die unteren Tariflöhne sollen um 20 bis 30 Prozent abgesenkt werden, fordert etwa die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA) seit langem. Und "wenn die Gesellschaft solche Jobs für unsozial hält, weil diese Einkommen angeblich nicht für den Lebensstandard reichen, dann muß der Staat die Differenz durch Transfers ausgleichen", erklärte Hans-Peter Stihl, Präsident des Deutschen Industrie und Handelstages (DIHT), in der Wirtschaftswoche - und fügte gleich den Preis dieses Angebots hinzu: "Das Kombilohnmodell kann nur funktionieren, wenn man die Sozialhilfe so absenkt, daß das Abstandsgebot zu den unteren Lohngruppen wieder existiert.

Als "Arbeit um jeden Preis" bezeichnet Guido Grüner von der Erwerbslosen-Zeitschrift Quer daher das Konzept. Wer auf das staatliche Angebot verzichtet, müsse mit empfindlichen Streichungen bei der Hilfe rechnen. Und wer sie annimmt, hat sich nach dem Ende der staatlichen Subventionen mit einer schlecht bezahlten Arbeit abzufinden, die kaum zum Lebensunterhalt reicht.

Die Umrisse einer sozialdemokratisch gewendeten Arbeitsmarktpolitik, von den Erfurtern als "andere Politik" buchstabiert, zeichnen sich also schon jetzt deutlich ab. Die Gefahr könnte demnach tatsächlich aus dem Osten kommen - sollen sich doch dort zuerst jene deregulierten Arbeitsverhältnisse durchsetzen, die in einer künftigen Schröder-Republik wohl selbstverständlich sein werden.