Vernichtung durch Arbeit - Gewinn durch Arbeit

Um einem Prozeß einiger Überlebender zuvorzukommen, hat Volkswagen die Einrichtung eines Hilfsfonds für ehemalige ZwangsarbeiterInnen angekündigt

Von den rund 15 000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die während des Zweiten Weltkrieges zwei Drittel der Belegschaft von Volkswagen ausmachten, leben nach Schätzungen von VW heute noch zwischen 200 und 300 Menschen. Die Zwangsarbeiter - vor allem weibliche Häftlinge aus dem KZ Auschwitz, die VW-Angestellte persönlich ausgesucht hatten, polnische Zwangsarbeiter und sowjetische Kriegsgefangene - schufen die Grundlage für den Aufstieg des im Nationalsozialismus gegründeten Unternehmens zum Weltkonzern.

Dieser wirtschaftliche Erfolg ist es, der die Volkswagen AG nun dazu gebracht haben dürfte, die Einrichtung eines "privaten Hilfsfonds" anzukündigen, aus dem den ehemaligen Zwangsarbeitern "humanitäre Hilfe" zukommen soll. Denn die bisher erfolgreiche Expansion auf den nord- und südamerikanischen Markt könnte ins Stocken geraten, wenn 30 ehemalige Zwangsarbeiter ihre Drohung wahr machen und VW auf Entschädigung verklagen.

Ein solcher Prozeß hätte nicht nur Aussicht auf Erfolg; allein die Öffentlichkeit, die er hätte, läßt VW befürchten, unter ähnlichen Druck zu geraten wie die Schweizer Banken oder deutsche Versicherungen, die sich immer noch nicht dazu durchringen können, enteignetes Vermögen zurückzugeben.

Der viertgrößte Autohersteller der Welt kam mit der Entschädigungsankündigung dem Prozeß zuvor: Anfang Juli sollte die Klage eingereicht werden. Nun wollen die Überlebenden, so ihr Prozeßbevollmächtigter Klaus von Münchhausen zur taz, erstmal abwarten: "Das hängt von der Höhe der Summe ab und wie die Konstruktion des Hilfsfonds aussieht." Über diese Fragen wird VW allerdings erst im September bei einer Aufsichtsratssitzung endgültig entscheiden. Ob es sich bei der Ankündigung tatsächlich um die Aufgabe der bisherigen Verweigerungshaltung deutscher Unternehmen zur Entschädigung von Zwangsarbeit handelt oder nur um eine Hinhaltetaktik, die einen möglichen Prozeß verzögern soll, ist also offen.

Vieles deutet darauf hin, daß der VW-Vorstand den Ausgang der Bundestagswahlen abwartet. VW-Aufsichtsrat und SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder kündigte nämlich im Mai 1998, als das Unternehmen noch einmal bekräftigt hatte, keinen Pfennig an die Zwangsarbeiter zahlen zu wollen, an, er werde sich im Falle seiner Wahl für eine Stiftung zur Entschädigung einsetzen, an der sich dann auch andere Unternehmen beteiligen sollten. Eine solche Stiftung wird schon seit den achtziger Jahren gefordert.

Im Gegensatz zur Bundesregierung, die die Entschädigungsansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter als "verjährt" zurückweist (Jungle World, Nr. 27/98), vertritt Schröder die Meinung, daß den Interessen des Standorts Deutschlands mit einem Entschädigungsfonds besser gedient sei. Wenn überhaupt, dann sei die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Nazi-Reiches für Entschädigungen zuständig. Zwangsarbeit gehörte jedoch nicht zu den "Schäden", die Überlebende nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) geltend machen konnten. Bis heute wird der Komplex Zwangsarbeit eher der Sozial- als der Kriminalgeschichte des Nationalsozialismus zugeordnet.

Nach neuesten Schätzungen arbeiteten während des Zweiten Weltkrieges zwischen neun und zehn Millionen Menschen zwangsweise bei Unternehmen, Kommunen und in der Landwirtschaft. Etwa 12 000 Unternehmen beschäftigten Zwangsarbeiter. Die Einführung der Zwangsarbeit und die brutale Behandlung der Zwangsarbeiter wurden nach der Niederlage Deutschlands in mehreren Prozessen als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft. Vor dem Internationalen Militärtribunal wurden Fritz Sauckel, Beauftragter für den Arbeitseinsatz, und Rüstungsminister Albert Speer verantwortlich gemacht und angeklagt. Sauckel wurde zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 gehängt; Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Die meisten Direktoren und leitenden Angestellten der deutschen Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitierten, kamen um eine Anklage herum. Der israelische Historiker Shmuel Krakowski beschrieb auf der Gedenkveranstaltung "Den Opfern der Vernichtung durch Arbeit" zum 150. Firmenjubiläum der Siemens AG die mangelnde Verfolgung der Verbrechen so: "Von den in der Folge des Internationalen Militärtribunals von der amerikanische Armee durchgeführten zwölf Nürnberger Militärgerichtsprozessen beschäftigten vier sich ausdrücklich mit dem Verbrechen der Zwangsarbeit: Prozeß Nr. 4, der Fall Pohl, in dem 18 führende Männer des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS, verantwortlich für Verteilung der Zwangsarbeiter, und des SS-Konzerns Osti angeklagt waren (der Hauptangeklagte Pohl und zwei weitere wurden zum Tode verurteilt); Prozeß Nr. 5, in dem Friedrich Flick zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde; Prozeß Nr. 6, der Fall IG Farben: 24 Direktoren und Ingenieure wurden verurteilt, erhielten aber nur geringe Strafen - die Hauptangeklagten, Otto Ambros und Walter Dürrfeld, bekamen nur acht Jahre Haft; Prozeß Nr. 10, der Fall Krupp: Alfried Krupp von Bohlen und elf weitere Direktoren seiner Gesellschaft wurden beschuldigt, die Politik der Zwangsarbeit eingeführt zu haben. Krupp bekam zwölf Jahre, wie auch Erich Müller und Friedrich von Bülow. Die anderen erhielten geringere Strafen."

Doch während am 31. Januar 1951 die noch in Haft befindlichen Manager und Direktoren von den amerikanischen Besatzungsbehörden begnadigt wurden und wenige Jahre später schon wieder in führenden Positionen ihrer Unternehmen beschäftigt waren, gingen die ehemaligen Arbeitssklaven meist leer aus.

In den fünfziger und sechziger Jahren wurden zum Beispiel jüdische ehemalige Zwangsarbeiter von IG Farben und Siemens entschädigt - beide Firmen zahlten die Summe von je etwa 30 Millionen Mark, was gerade einem Drittel dessen entsprach, was die IG Farben-Nachfolger den Pensionären der Firma jährlich überwiesen - unter ihnen die Angeklagten des Nürnberger Prozesses ebenso wie zahlreiche Schreibtischtäter, die gar nicht erst angeklagt worden waren.

Daß nach über fünfzig Jahren nun doch noch Bewegung in die Entschädigungsfrage kommt, hat zunächst einen ganz sachlichen Grund: Die humanitäre Geste kostet kaum noch etwas. Von denen, die das Kriegsende überlebt hatten, sind die meisten schon gestorben. So kann VW die Anerkennung einer "historischen und moralischen Verantwortung für die Sklavenarbeiter", wie es in der Stellungnahme heißt, aus der Portokasse zahlen, auch wenn sich herausstellen sollte, daß es - wie der Prozeßbevollmächtigte von Münchhausen vermutet - noch etwa 1 500 Überlebende gibt.

Im vergangenen Jahr erkannte das Bonner Landgericht ehemaligen Zwangsarbeiterinnen der Union-Werke, die im KZ Auschwitz Dynamit herstellen mußten, Entschädigungszahlungen zu, sofern sie noch nicht nach dem BEG Leistungen erhalten hatten.

Anläßlich des Urteils erneuerten die Grünen und eine Reihe von Interessenverbänden ehemaliger Zwangsarbeiter die Forderung nach einer Bundesstiftung für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit. Das Zahlungsmodell, das von den Grünen vorgeschlagen wird, sieht pauschale Zahlungen vor, keine Renten, und orientiert sich damit an den Verträgen, die die Jewish Claims Conference mit Siemens, IG Farben i.A. und weiteren Firmen zur Entschädigung jüdischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter geschlossen hat - mithin also Verträgen, mit denen sich keinerlei Anerkennung des Leids und der Ausbeutung durch die jeweiligen Firmen verbindet.

Unterdessen versuchen nun mehrere Firmen, zu außergerichtlichen Regelungen zu gelangen, um Prozesse und damit einen Imageverlust zu vermeiden. Schon 1996 kam es zu einer Einigung zwischen den IG Farben-Nachfolgern Bayer, BASF und Hoechst und US-amerikanischen ehemaligen Zwangsarbeitern, die mit einer Klage gedroht hatten. Da sie schon während des Zweiten Weltkrieges US-Bürger waren, hätten sie vor amerikanischen Gerichten große Erfolgsaussichten gehabt.

Die Mehrheit der heute in den USA lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter ist jedoch erst nach 1945 in die USA eingewandert. Ein Gesetz, dessen Entwurf zur Zeit im Bundesstaat Kalifornien diskutiert wird, soll ihnen jetzt ermöglichen, individuelle Entschädigungen vor US-Gerichten durchzusetzen.

Das Versicherungsunternehmen Allianz reagierte auf die Sammelklage von Angehörigen ermordeter Juden auf Auszahlung ihrer Versicherungspolicen in den USA ebenfalls mit Verhandlungen. Wie VW ist die Allianz auf Expansionskurs und demonstriert deshalb eine für deutsche Unternehmen ungewohnte Offenheit: Bei vielen Unternehmen liegen die entsprechenden Akten noch unter Verschluß.

Selbst die Degussa, deren Handel mit Zahngold, das man ermordeten Juden aus dem Mund brach, im Zuge der Aufdeckung des Raubgold-Skandals an die Öffentlichkeit kam, will sich nun mit polnischen ehemaligen Zwangsarbeitern einigen. Denn was Imageverlust bedeuten kann, zeigt aktuell die Boykottdrohung von New York, Kalifornien und New Jersey gegen Schweizer Produkte. Die Schweizer Banken verweigern nach wie vor die Rückgabe des Vermögens, das die Nazis von Juden raubten und in der Schweiz deponierten.

Daß auch die Öffentlichkeit innerhalb Deutschlands ein Faktor sein kann, bewies in den vergangenen Monaten der Fall des Nürnberger Rüstungsbetriebs Diehl. Zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den Seniorchef des mittelständischen Familienbetriebs wurde öffentlich gemacht, daß Diehl von der "unfreien Arbeit" profitiert hatte. Diehl dementierte zunächst, ließ sich dann aber auf eine Vereinbarung ein, die ihm im Gegenzug zusichert, daß die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen keine juristischen Schritte einleiten werden.

Die große Mehrheit der 12 000 deutschen Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitierten, lehnen jedoch nach wie vor Entschädigungszahlungen ab. Ob die Entscheidung von VW Signalwirkung hat, wird man in den nächsten Wochen erfahren, wenn die Firmen Varta und Hochtief auf Klagedrohungen von rund einhundert dänischen Überlebenden reagieren müssen. Die Strategie von VW kann auch zur Folge haben, daß individuelle Lösungen getroffen werden, deren Bedingungen die Firmen diktieren.