Frieder Otto Wolf

»Ein Krisensymptom für Rot-Grün«

Direkt vor der Beethovenhalle, wo zu dieser Zeit der Parteitag der Grünen stattfand, kesselte die Polizei am vergangenen Wochenende in strömendem Regen rund 400 Demonstranten ein, die gegen einen Nazi-Aufmarsch anläßlich der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" protestiert hatten. Zahlreiche grüne Delegierte setzten sich dafür ein, den Kessel aufzulösen, doch die polizeiliche Einsatzleitung ließ sich nicht beeindrucken: Erst nach sieben Stunden ließ sie die vollkommen durchnäßten Demonstranten frei. - Frieder Otto Wolf ist Bundestagsabgeordneter der Grünen.

Grüße von der Polizei: Parallel zum grünen Parteitag sind in der rot-grün regierten Stadt Bonn Hunderte von antifaschistischen Demonstranten über Stunden eingekesselt worden. Ist das ein Vorgeschmack auf die neue Regierung?

Ich weiß nicht genau, wie das zustandegekommen ist. Aber es ist sicherlich nicht das, was von Rot-Grün zu erwarten ist. Ein Vorgeschmack auf Rot-Grün ist eher, daß wir in heftigen Bemühungen die Freilassung der Eingekesselten erreicht haben. Natürlich ist damit genau das Problem des Umganges mit der Staatsgewalt angesprochen. Die Staatsgewalt mit ihren repressiven Funktionen hat man am Hals, wenn man in die Regierung eintritt. Es kommt darauf an, sich für rechtsstaatliche Prinzipien einzusetzen.

Ich denke, das Vorgehen der Polizei hier in Bonn wird noch Konsequenzen haben, denn es war unverhältnismäßig, unkontrolliert und auch unkoordiniert. Es geht nicht an, daß ein stellvertretender Ministerpräsident wie Michael Vesper heute erleben mußte, zwei Stunden von niederen Polizeichargen hingehalten zu werden. Da sind Dinge abgelaufen, die rechtsstaatlich nicht in Ordnung waren und die korrigiert gehören. Und ich denke, die werden korrigiert.

Sieht Rot-Grün in der Praxis so aus, daß grüne Minister dazu da sind, von Demonstration zu Demonstration zu eilen, um vor Ort per Handy auf das sozialdemokratisch geführte Innenministerium einzuwirken, seine Polizei zur Räson zu bringen? Ist das nicht ein bißchen wenig für Rot-Grün?

Das ist viel zu wenig. Was hier in Bonn passiert ist, ist ein wirkliches Krisensymptom der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, das sehe ich auch so. Aber ich denke, da wird es jetzt Korrekturen geben.

Was bietet denn die Gewähr, daß auf Bundesebene so etwas wie in Nordrhein-Westfalen nicht vorkommt? Gerade im Bereich der sogenannten Inneren Sicherheit hat sich im rot-grünen Koalitionsvertrag die Law-and-order-Linie der SPD durchgesetzt. Forderungen der Grünen, wie die nach einer Liberalisierung des Demonstrationsrechts, hatten keine Chance.

Diese Gewähr gibt es nicht. Der Teil "Innere Sicherheit" des Koalitionsvertrages ist die größte Niederlage, die wir als Grüne haben einstecken müssen. Da gibt es nichts schönzureden. Ich denke trotzdem, daß es einen Klimawechsel geben wird und daß auch beispielsweise Polizeibeamte und Polizeipräsidenten einfordern werden, daß sie nicht mehr nach einem Kanther-Konzept verheizt werden. Das wird auch Otto Schily nicht verweigern können.

Die Bündnisgrünen haben viele Kröten schlukken müssen. Für die Parteilinke müßte der Koalitionsvertrag doch eigentlich noch schwerer verkraftbar sein. Gibt es überhaupt Passagen, die die Handschrift der Linken in den Grünen tragen?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Neben der nun endlich erfolgenden Änderung des völkischen deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes gibt es meines Erachtens zwei Teile, die einigermaßen vernünftig sind, in denen wir auch unsere Forderungen wiedererkennen. Das ist zum einen der engere Ökologie-Teil, mal abgesehen vom Atomausstieg und der Gentechnologie. Da gibt es eine Reihe von konkreten und auch umsetzbaren Regelungen, die verbindlich vereinbart worden sind. Zum zweiten - das wird vielleicht überraschen - sind im gesamten Bereich Europa- und Beschäftigungspolitik eine Reihe von wichtigen Forderungen versteckt, die angesichts der Dynamik, die gerade in Europa abläuft, einige Tragweite haben. Das gilt ebenso für den Teil Außenwirtschaft. Da haben wir beispielsweise die Orientierung auf einen sozial-ökologischen Umbau der Weltwirtschaft durchgesetzt.

Im Bereich Asylrecht ist von grünen und linken Positionen nichts zu entdecken. Ist es für linke Grüne tatsächlich vertretbar, daß auch unter einer rot-grünen Bundesregierung Menschen in Elend und Tod geschickt werden?

Natürlich ist das nicht vertretbar, aber auch da setzen wir auf die weitere gesellschaftliche Auseinandersetzung und werden auch selber weiter dafür eintreten, daß hier noch nachgebessert werden muß in der Praxis des Regierungshandelns. Es ist im übrigen nicht ganz so, daß da überhaupt nichts herausgeholt worden ist. Immerhin konnten ein paar kleinere Dinge vereinbart werden. Die Härtefallregelung ist beispielsweise nicht unwichtig.

Das Problem ist, daß die eigentlich notwendigen großen Lösungen nicht zugänglich sind, weil wir dafür eine verfassungsändernde Mehrheit bräuchten. Die kleinen Lösungen sind größtenteils Praxisfragen: wie die Regierung handelt, welche Praxis sie entwickelt. Es gibt hier zumindest Prüfungsaufträge. Da kann man noch etwas draus machen.

Auf dem Bonner Parteitag hat die Parteilinke, wie auch schon im Wahlkampf, den Schulterschluß mit dem Realo-Flügel demonstriert. Gibt es tatsächlich in den entscheidenden politischen Fragen keine Differenzen mehr?

Es gibt wesentliche strategische Differenzen zwischen der Linken und den verschiedenen rechten - ich glaube da gibt es einen Differenzierungsprozeß - Strömungen in unserer Partei. Aber: Diese Differenzen beziehen sich darauf, was man über den Koalitionsvertrag hinaus anstrebt.

Also werden Linke und Realos weiterhin Geschlossenheit demonstrieren?

Ich halte Geschlossenheit innerhalb einer Partei tatsächlich für wünschenswert, wenn sie gemeinsame Handlungsfähigkeit bedeutet. Wenn es nur darum ginge, irgendwelchen Alpha-Rüden zu folgen, wäre das schlecht. Nach meiner Erfahrung ist es so aber nicht. Es muß vorher einen Prozeß der Kompromißbildung geben wie auf diesem Parteitag in der Frage der Trennung von Ministeramt und Mandat. Sonst funktioniert das nicht. Insofern ist da immer noch ein produktiver Prozeß im Gange, der dazu führt, daß sich in dem, was dann als Position beschlossen wird, auch die Linke wiedererkennen kann.

Ob linke oder rechte Grüne - in der Debatte um den Koalitionsvertrag vermittelte die überwiegende Mehrzahl der Rednerinnen und Redner vor allem, daß hier eine hervorragende Vereinbarung getroffen worden sei. Warum wurde dieser Vertrag mit all seinen gravierenden Mängeln derartig schöngeredet?

Ich hatte nicht den Eindruck, daß da schöngeredet wurde. Es ist der grüne Interpretationsanspruch auf das Dokument angemeldet worden. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wir müssen als Grüne diesen Vertrag maximal in unserem Sinne interpretieren. Wir wissen aber auch, daß diese Interpretation ihren Praxistest in der Wirklichkeit hat, die nicht durch philologische Leistungen zu ersetzen ist.

Natürlich müssen wir sehr sorgfältig bilanzieren: Wo sind nur halbe Sachen herausgekommen? Wo muß nachgebessert werden? Es wäre ein strategischer Fehler, wenn man einfach sagen würde, wir hätten alles mögliche schon im Vertrag erreicht. Ich habe mal nachgezählt: Es gibt 14 Punkte, wo wesentliche Entscheidungen auf die Zukunft verschoben worden sind. In all diesen Punkten ist nicht von vonherein klar, daß auf der sozialdemokratischen Seite eine vereinheitlichte und durchhaltbare Gegenposition existiert. Da gibt es auch innerhalb der SPD Widersprüche, und es wird noch einen gesellschaftlichen Prozeß geben, der die Kräfteverhältnisse definieren wird, die die Interpretation in der Praxis entscheiden. Ohne die Veränderung von Kräfteverhältnissen wird es natürlich nicht gehen, um die gilt es zu kämpfen. Deshalb ist es richtig, den Anspruch zu erheben, aus diesem Vertrag das Maximum herauszuholen.

Ich muß noch mal insistieren: Werden jetzt alle grünen Parteitage Abnickveranstaltungen ˆ la SPD?

Ich sehe nicht, daß die Zukunft der Grünen darin liegt, daß wir Abnickparteitage machen, wo die Menschen draußen sitzen und nur zum Abstimmen hereinkommen und dann abstimmen. Das hat sich auch auf diesem Parteitag heute überhaupt nicht bestätigt. Die Delegierten haben sich vielmehr eine bestimmte Situation zu eigen gemacht. In dieser Situation war es nicht denkbar, daß die Partei sagt: So, ihr habt verhandelt, das paßt uns jetzt alles nicht, und wir machen was anderes.

Die überwältigende Mehrheit für den Koalitionsvertrag bei der Endabstimmung muß man richtig interpretieren. Das war die Zustimmung, jetzt auf dieser Grundlage weiter Politik zu machen. Dagegen zu stimmen, hätte überhaupt keinen entzifferbaren politischen Sinn gemacht.