Nikitin-Prozeß ausgesetzt

Kein Freispruch

Die Begründung, mit der Richter Sergej Golets am letzten Donnerstag die Gerichtsverhandlung gegen den ehemaligen russischen Offizier Alexandr Nikitin (Jungle World, Nr. 44/98) aussetzte, war denkbar einfach: Die Staatsanwaltschaft und mit ihr der russische Geheimdienst FSB konnten die angebliche Straftat - Nikitin war der Spionage für westliche Geheimdienste angeklagt worden - nicht beweisen. Die vorgelegten Indizien reichten nicht zu einer Verurteilung. Golets übergab das Verfahren daher wieder an die Anklagebehörden, der Staatsanwalt muß in den nächsten Wochen entweder neue Beweise vorlegen oder das Verfahren endgültig einstellen.

Einen Freispruch stellt dieses Urteil jedoch nicht dar, deswegen kündigten Nikitins Verteidiger eine Klage vor dem höchsten russischen Gericht an. Frederic Hauge, Vorsitzender der norwegischen Umweltschutzorganisation Bellona - mit der Nikitin zusammengearbeitet hatte - erklärte darüber hinaus, man werde sich an den Europäischen Gerichtshof wenden: "Es handelt sich um einen klaren Verstoß gegen die Menschenrechte, wenn ein Angeklagter nicht freigesprochen wird, obwohl keine Beweise für seine Schuld vorliegen."

Der Angeklagte, der gemäß gerichtlicher Auflage in der nächsten Zeit Petersburg nicht verlassen darf, zeigte sich trotzdem erleichtert. Und mit ihm seine Verteidigung: "Das ist eine totale Niederlage für den FSB!" erklärte Verteidiger Yuri Schmidt. Nach Recherchen der norwegischen Tageszeitung Dagbladet hatte der russische Geheimdienst zeitweilig drei verschiedene Abteilungen damit beschäftigt, belastendes Material über Nikitin zu finden und damit die Spionage-Anklage zu untermauern.

Ohne Erfolg: Die zusammengetragenen Indizien reichten Richter Goltes nicht. Mit der Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, habe er "Mut bewiesen", so Verteidiger Schmidt, "selbst wenn er nicht besonders mutig handelte. Wenn er Alexandr für unschuldig erklärt hätte, wäre das natürlich viel besser gewesen, aber wir haben Verständnis für den enormen Druck, der auf ihm lastete."

Thomas Nilsen, offizieller Prozeßbeobachter von Bellona, die von der Staatsanwaltschaft als verdeckte Spionageorganisation dargestellt worden war, sah das ähnlich: "Niemals zuvor in der sowjetischen oder russischen Geschichte ist eine Spionage-Anklage von einem Gericht abgewiesen worden."

Was den Westen begeistert, ruft in Rußland jedoch keine große Freude hervor - Umweltschutz gilt bei vielen als bloßes Luxus-Problem. In einem vergangene Woche im Internet organisierten Gespräch mit Nikitin fragte beispielsweise eine Russin: "Ich würde gerne wissen, ob Herr Nikitin glaubt, daß seine Handlungen wirklich etwas sind, worauf ein russischer Offizier stolz sein kann. Ob es für ihn tatsächlich in Ordnung ist, Geld aus Norwegen zu bekommen, während Tausende russische Offiziere seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben - aber sich trotzdem immer noch loyal zu ihrem Land verhalten."

Nikitin sieht das ganz anders: "Ich bin immer wieder überrascht von der russischen Mentalität und der vorherrschenden Auffassung, nach der alle gleich sein sollen, gleich arm. Daß die russischen Offiziere keinen Lohn bekommen, ist etwas, was mich natürlich aufregt, aber ich finde es auch sehr merkwürdig, daß sich keiner von ihnen dagegen wehrt. Warum versuchen sie nicht gemeinsam, ihre Situation zu verbessern? Nichts zu tun, ist doch Ausdruck einer Sklavenideologie."