Martin van Bruinessen

»Öcalan will in die Rolle Dimitroffs schlüpfen«

Der PKK-Chef Abdullah Öcalan hat es höchstpersönlich angekündigt: Die kurdische Guerilla-Gruppe will ihre bewaffnete Politik beenden. Nun ist Diplomatie angesagt. Wird Öcalan in die Fußstapfen Arafats treten? Oder doch weiter den ungeliebten Guerilla-Chef abgeben? Martin van Bruinessen lehrt Turkologie und Kurdologie an der Universität Utrecht, 1996 bis 1997 war er Gastprofessor für Kurdologie an der FU Berlin. Seine Dissertation erschien als Buch in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Agha, Sheikh und Staat" (Ed. Parabolis, Berlin 1989) und gehört zu den Standardwerken über die kurdische Gesellschaft.

Die Selbstauslieferung von Abdullah Öcalan an Italien hat die kurdische Frage internationalisiert. Die EU-Staaten müssen jetzt auf politischer Ebene agieren, und das will die PKK auch. Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die neue Erklärung der PKK ein, keine bewaffnete Politik mehr zu verfolgen?

Das sind zwei voneinander zu trennende Sachen. Die PKK will sich zumindest die Möglichkeit erhalten, solche Aktionen durchzuführen. Denn ihre Anführer haben in Verhandlungen nichts anzubieten als ein Ende der Gewalt. Sie haben die Gewalt gebraucht, um die kurdische Frage auf die politische Agenda der Türkei zu setzen. Seit 1993 wollen sie den Schritt vom bewaffneten Kampf zu diplomatischen Verhandlungen machen. Aber auch diplomatische Verhandlungen können sie nur durchführen, wenn sie mit der Alternative der Gewalt drohen können. Ich denke nicht, daß die Guerilla-Armee der PKK aufgelöst werden wird. Sie wird einfach in den Bergen und im Ausland bestehen bleiben und von Zeit zu Zeit bewaffnete Aktionen durchführen.

In der vergangenen Woche hat Ertugrl Kürkcü, Kolumnist und Gast-Autor in der prokurdischen Zeitung Özgur Gündem, im Deutschlandfunk vertreten, daß die durch Vertreibungen aus den Dörfern erzwungene Urbanisierung dazu führen wird, daß in Zukunft national-territoriale Forderungen in den Hintergrund treten und dafür Forderungen nach "sozialer und kultureller Akzeptanz" stärker werden.

Die werden zumindest hinzukommen. Es geht nicht nur um die Frage von einem Gebiet in der Türkei, das autonom sein will, denn nur noch etwa die Hälfte der Kurden lebt dort, und die andere Hälfte lebt anderswo in der Türkei oder in Europa.

Aber es gibt auch die symbolische Ebene. Kurdistan ist Teil der Definition der kurdischen Identität, auch wenn man nicht dort geboren ist. Und weil das Symbolische sehr wichtig ist, wird die kurdische Bewegung die Forderung nach Autonomie für Kurdistan wohl nicht aufgeben, aber vielleicht nicht mehr als einzige und auch nicht als Hauptforderung der Bewegung vertreten.

Wie wird sich eine weitergehende Internationalisierung der kurdischen Frage - sollte die PKK von Europa aus dem Exil ihre Politik betreiben können - auf das Gefüge zwischen Kurden in der Türkei und Kurden in der europäischen Diaspora auswirken?

Leute aus PKK-Kreisen, mit denen ich in der letzten Zeit geredet habe, sind alle davon überzeugt, daß eine politische Lösung des Kurden-Problems ohne Beteiligung Europas nicht möglich ist. Es ist nicht möglich, die türkische politische Elite, das heißt die Regierung und die Armee, ohne starken Druck aus Europa zu einer Akzeptanz von kollektiven Forderungen der kurdischen Bewegung zu bringen.

Das ist auch einer der Gründe, warum Öcalan nach Europa gekommen ist. Die Kurden wissen: Wenn die kurdische Frage nicht zu einem europäisches Problem wird, ist eine politische Lösung kaum möglich. Deshalb ist die politische und potentiell militärische Kraft der PKK für sie in Europa sehr wichtig. Mit ihrer Existenz hier will sie die europäischen Länder auch dazu zwingen, eine aktivere Vermittlungsrolle einzunehmen.

Auf der anderen Seite: Was bewegt sich in der Türkei?

In der Türkei gibt es momentan wenig Anlaß zu Optimismus. Wichtige Veränderungen in der Politik der Türkei sind vorläufig nicht aus Kreisen der politischen Parteien in der Türkei zu erwarten. Wichtig sind die Industriellen, von denen eine Gruppe seit Jahren von einer politischen Lösung in dieser Frage spricht. Aber die einzigen, die darauf Einfluß nehmen können, sind die Militärs. Und natürlich hat Europa auf das Militär auch einigen Einfluß und kann vielleicht mehr Einfluß auf es ausüben.

Was ist mit den Kreisen in der Türkei, die vom Bürgerkrieg durch Waffen- und Drogenhandel profitieren? Besteht nicht die Gefahr, daß sie eine solche Entwicklung zu torpedieren versuchen?

Das ist vielleicht das schwierigste Problem in dieser ganzen Frage. Es gibt eine ziemlich große Gruppe innerhalb der Armee und der Politik, die ungeheuer von diesen Sachen profitiert. Wir haben gesehen, daß es auch der Regierung unter Mesut Yilmaz nicht gelungen ist, da ein wenig zu "säubern". Und dazu gehört inzwischen die Regierung selbst, da sie offenbar einige Minister hatte, die sehr eng mit der Mafia verbunden sind.

Wird es einen Prozeß gegen Öcalan geben?

Da gibt es juristische und politische Argumente. Die Juristen sagen, daß es momentan kein internationales Gericht gibt, das ihn verurteilen könnte. Die Politiker aus Europa haben mal gesagt, daß sie so etwas wollen. Aber die wissen auch nicht, was sie nun genau wollen. Deutschland hat Angst, Öcalan auf deutschem Boden vor Gericht zu stellen - ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Öcalan hat in den letzten Tagen selbst angeboten, vor Gericht Aussagen zu den Sachen zu machen, deren er beschuldigt wird.

Ist es denn überhaupt möglich, das Vorgehen des türkischen Regimes ebenfalls zum Gegenstand eines solchen Verfahrens zu machen?

Das stellt Öcalan sich offenbar vor - ich denke, er hat keine Ahnung, wie so etwas funktioniert. Deutschland will ihn vor Gericht sehen wegen einiger Morde - nicht als Terrorist oder so etwas. Nur ganz konkrete Sachen, wo man denkt, ausreichend Beweise dafür zu haben, daß er als Auftraggeber tätig war. Das wäre sehr beschränkt.

Interessanter wäre es natürlich, wenn ein Gericht in Europa die Beschuldigungen ernst nehmen würde und die Frage untersuchen würde, wie sie von seiten der Türkei immer formuliert wird: Stimmt es, daß Herr Öcalan für 30 000 Tote verantwortlich ist?

Seine Anwälte könnten dann auch andere Beweise vorlegen, so daß es ein politischer Prozeß wird. Und Öcalan hofft natürlich, daß sein Prozeß - ein Prozeß, der als einer gegen Abdullah Öcalan beginnt - in Wirklichkeit ein Prozeß gegen den türkischen Staat wird. Und daß er sozusagen in die Rolle eines Dimitroff im Reichstagsbrandprozeß schlüpft.

Besteht nicht die Gefahr, daß in einem solchen Prozeß Öcalan gleichgesetzt wird mit einem Staatsverbrecher vom Schlage eines Pinochet?

Eine solche Gleichsetzung wäre natürlich Blödsinn. Es geht um zwei Leute, die ausgeliefert werden sollen, aber sie sind nicht vergleichbar. Öcalan muß man mit anderen Führern großer politischer Bewegungen vergleichen, die auch Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen haben: Arafat, Ben Bella aus Algerien, Mandela - das sind diejenigen, die Erfolg gehabt haben und Staatsoberhaupt geworden sind. Und dann gibt es natürlich einige, die keinen Erfolg gehabt haben - wie Abimael Guzman vom Leuchtenden Pfad in Peru, die Führer der Tamil Tigers in Sri Lanka. Ich denke, das sind vergleichbare Fälle.

Wie sehen die Chancen für eine demokratische Entwicklung innerhalb der PKK aus?

Im Juli hätte ich noch gesagt, daß da nicht viel möglich ist. Eine so autoritäre Bewegung, wie es die PKK war, eine so monolithische Organisation kann sich von innen heraus nicht demokratisieren, hätte ich gedacht.

Aber wenn man z.B. ihre Veröffentlichungen jetzt mit denen vor ein paar Jahren vergleicht; wenn man sieht, wie in den prokurdischen Medien Özgür Politika und Med TV nun auch vorsichtige Kritik an Öcalan geübt werden kann; wenn man sieht, wie Dissidenten, die erst aus der Partei rausgeschmissen wurden, nicht mehr wie früher ermordet werden, sondern immer noch in Kommunikation mit der PKK stehen, wieder zurückkommen und eine wichtige Rolle spielen können - dann kann man davon ausgehen, daß Öcalan sich in diesem Prozeß auch hat beeinflussen lassen: von den europäischen Führern der PKK, die hier eine andere Auffassung von Politik aufgenommen haben als die, mit der Öcalan in Damaskus gelebt hat, wo seine einzigen Kontakte eigentlich die Politiker der syrischen Baath-Partei waren. Wenn sich nun innerhalb der PKK doch eine Form des Wandels der politischen Kultur zeigt, werde ich etwas optimistischer.

Ist Öcalan die PKK?

Nein, wenn wir von der PKK sprechen, meinen wir manchmal ganz unterschiedliche Dinge: Es gibt die Partei, es gibt innerhalb der Partei den Geheimdienst, der für die meiste Gewalt und die Attentate verantwortlich ist, und es gibt diesen Umkreis, der nicht ganz unter der Kontrolle der PKK steht, der solidarisch ist und zu den Demonstrationen kommt - auch das ist PKK. Und diese Leute sind sehr unterschiedlich. Unter ihnen trifft man keine ideologische Homogenität an.

Was bleibt von der PKK übrig, wenn sie ihre nationale Befreiungsideologie fallen läßt und wenn, was jetzt schon der Fall ist, die sozialen Forderungen und Ideale weg sind? Ein simpler kapitalistischer Modernisierungsfaktor?

(Lacht) Ich denke, daß sie in bestimmter Hinsicht schon etwas entideologisiert ist, von dem stark ideologischen Marxismus schon Abstand genommen hat. Sie ist allgemein links, stark emotional links gegen Unterdrückung. Und sie hat eigentlich nie eine richtige Auffassung von der Organisation der Ökonomie gehabt oder etwas über den wirtschaftlichen Aufbau in einem unabhängigen Kurdistan gesagt. Darüber hatte sie keine konkreten Ideen. Wenn es ihr wirklich gelingt, in Zukunft eine politische Rolle zu spielen, dann wird das natürlich im Rahmen einer kapitalistischen Ökonomie sein.