Der Sturz vom Pferd

Schmerzhafter Beginn einer absoluten Liebe. Über eine Szene in Stendhals Romanfragment "Lucien Leuwen"

Wer nur weiß, daß Paul Valéry "Lucien Leuwen" allen anderen Werken Stendhals vorzog, wird wohl annehmen, seine Wertschätzung habe dem zweiten Teil dieses Romanfragments gegolten.

Die Kälte und Rücksichtslosigkeit, mit denen dort die Machinationen und Manöver der politischen Klasse in Frankreich geschildert werden, die allgegenwärtige Heuchelei, in die selbst der Held verstrickt ist, die Algebra der Intrige - das muß den Zyniker Valéry angesprochen haben. Stendhals, dieses Revolutionärs ohne Glauben an die Revolution, kaustische Kommentare über die Regentschaft Louis-Philippes, über die anbrechende Herrschaft des Kapitalismus, aber auch die linken und rechten Gegner dieser noch gemeineren, noch öderen Diktatur des Mittelmäßigen - das muß dem konservativen Anarchisten gefallen haben.

Und solche Annahmen werden bestätigt: In seinem Stendhal-Essay (1927) zeigt sich Valéry entzückt von der "sozialen Maskerade" in "Lucien Leuwen" und von dem großen Schauspieler und Regisseur, der sie zum Leben erweckt. Wenn er sich auch eines Einwands nicht enthalten kann: Es sei "ein wenig zuviel an Leben" darin. Die Liebesgeschichte im ersten Teil des Fragments habe, als er sie zum ersten Mal las, bei ihm "eine wundersame Verwirrung" bewirkt, "die ich verabscheue ..." Zum Zeitpunkt dieser ersten Lektüre, 30 Jahre zuvor, war von dem Abscheu freilich nichts zu bemerken: "Was Leuwen angeht, den ich bewundere, verbiete ich dir", schrieb damals Valéry an André Gide, "anders als lobend darüber zu sprechen." Stendhal sei "fast der einzige Schriftsteller, dessen Abschnitte über die Liebe ich leiden kann. Die Liebe, niedergeschrieben, widert mich an, außer bei Beyle (d.i. Stendhal; S.R.). Nichts in Beylo ipso ist, was das betrifft, besser als die Liebe mit Mme de Chasteller. Das ist die Vollendung; es ist die exakte Mixtur, die mein Magen verträgt - vom Herzen und vom Körper her." (19. April 1897)

Schlug diesem Leser die "wundersame Verwirrung" erst so viele Jahre danach auf den Magen? Oder findet er es nachträglich abscheulich, so naiv gewesen zu sein, sich von einem Maskenspiel anrühren zu lassen? Aber wie konnte eine Liebesmaskerade das Herz dieses Unbestechlichen so sehr bewegen, daß er sich noch 30 Jahre danach über seine Gefühle im unklaren ist?

Kehren wir also zurück zu jener Stelle, da der Millionärssohn und frischgebackene Unterleutnant des 37. Ulanen-Regiments in Nancy einreitet: "Lucien blickte auf und sah ein großes Gebäude, das nicht so abstoßend aussah wie all die anderen, an denen das Regiment bisher vorbeigeritten war; mitten in einer großen weißen Wand befand sich ein papageiengrün gestrichener Fensterladen. Was für schreiende Farben doch diese Tölpel von Provinzlern bevorzugen!

Lucien war noch mit diesem wenig höflichen Gedanken beschäftigt, als er plötzlich sah, wie der papageiengrüne Fensterladen ein wenig geöffnet wurde und eine junge Frau mit prachtvollem blondem Haar und hochmütiger Miene am Fenster erschien, um dem Vorbeizug des Regiments zuzusehen." (Übers. v. Edith Nischwitz)

In der grauen Front ein weißes Haus, in der weißen Fassade ein papageiengrüner Fensterladen, hinter dem ein wenig geöffneten Fensterladen eine blonde Frau: Die Überraschung ist durchaus vorbereitet, und doch wird man Madame de Chastellers erstes Auftreten mit Michel Crouzet eine "Erscheinung" nennen müssen, eine "Offenbarung"; "nicht allein der 'papageiengrüne Fensterladen' öffnet sich zu Beginn des Romans, sondern der Himmel selbst". ("Quatre ƒtudes sur Lucien Leuwen", Paris 1985) Gleich darauf heißt es bei Stendhal, Luciens "Seele" habe sich - ob dieses Blicks in den Himmel - "belebt".

Nun kommt es auf jede Einzelheit an: Die junge Frau schließt ihr Fenster, blickt aber, "halb verborgen durch den gestickten Mussellinvorhang, weiter hinaus". Lucien gewahrt in ihren Augen "einen eigenartigen Ausdruck; war es Ironie, Haß oder ganz einfach ihre Jugend und ein gewisser Hang, sich über alles lustig zu machen?" Er fragt sich also, ob sie ist wie er und was sie wohl von ihm halten mag. "Die zweite Schwadron, zu der Lucien gehörte, setzte sich plötzlich wieder in Bewegung; Lucien gab, ohne das papageiengrüne Fenster aus den Augen zu lassen, seinem Pferd die Sporen; es rutschte aus, stürzte und warf ihn ab."

Sogleich bricht, "allgemein und dröhnend", eine "Lachsalve" los; Lucien versetzt der "Mähre einen wuchtigen Hieb mit der Säbelscheide" und bemerkt, "daß die Frau mit dem aschblonden Haar noch lächelte, als er schon wieder zu Pferde saß". Er wird rot und schämt sich des Schmutzes an seiner Uniform, auf die er doch so großen Wert legt.

Eine größere Demütigung ist kaum denkbar: Der Verlust der ritterlichen Haltung, die buchstäbliche Erniedrigung, die Entstellung durch den Schmutz, die blamable Reaktion, die er zeigt (der Schlag mit der Säbelscheide; das Rotwerden), und das alles nicht nur unter dem Spott der erfahrenen Offiziere und Burschen, sondern auch belächelt von der schönen Erscheinung hinter dem Vorhang. Es ist die heikle Situation des Beginnens, in der sich einer einführen will und auf gar keinen Fall eine schlechte Figur abgeben darf. Lucien, schreibt Crouzet, ist die Karikatur eines Ritters, der unter den Augen seiner Dame paradiert (um schneidig zu erscheinen, spornt er seine elende Mähre an, anstatt sie einfach weitertraben zu lassen).

Wie emotional hoch besetzt die Sturz-Szene ist, erweist sich nicht nur dadurch, daß Lucien im Fortgang der Erzählung immer wieder seine Wunde leckt und das Malheur in seinen Reflexionen immer neu durchleidet, sondern auch, wenn man sie mit ähnlichen Szenen im Werk Stendhals vergleicht: In "Rot und Schwarz" fällt Julien Sorel vom Pferd und in den Straßenkot. Als er zurückkehrt, versucht Mathilde "vergeblich, ein Lachen zu unterdrücken". In "Lamiel" purzelt Dr. Sansfin vom Pferd in den Dreck - zum Vergnügen feixender Waschweiber. Im "Leben des Henri Brulard" beschreibt der Erzähler, wie ihm am Genfer See sein Pferd durchgeht. Kurz später scheint es "stürzen zu wollen. Der Kapitän fluchte und blickte finster."

Schließlich berichtet der "Egotist" in seinen "Erinnerungen", obwohl er "im Leben öfter vom Pferde gestürzt" sei, schaudere ihn vor Stürzen auf "lose unter den Tritten des Pferdes fortrollenden Steinen". Wiederholt werden die bösartigen und verletzenden Reaktionen der anderen geschildert, aber nur Lucien Leuwen kann sie nicht einfach ignorieren. Ist das, wie Gabrielle Pascal ("Rires, sourires et larmes chez Stendhal", Genf 1993) nahelegt, deshalb so, weil er in dem Gelächter der Soldaten ein "väterliches Lachen" wiedererkennt? Zu Recht ist Lucien davon überzeugt, daß sein Straucheln vom Vater mit überlegener Heiterkeit aufgenommen wird. Das Lachen der anderen muß den Sohn an die "objektive Ordnung" erinnern, in der er sich zu bewähren hat und der gegenüber er hier - nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal - versagt.

Man könnte an Pascals Beobachtung anknüpfen und in diesem Auslachen nicht nur den Vater, sondern auch dessen Kastrationsdrohung erkennen. Des Sohnes Herabsetzung, die Verletzung seiner Integrität, der Verlust der Männlichkeit würden gerade deshalb besonders brisant, weil eine der Mutter ähnliche Gestalt zugegen ist. Vermeidet es Lucien nicht, die Mutter, der er alles berichtet, über seine Beziehung zu Bathilde de Chasteller, ihrer Substitutin, aufzuklären? Erinnert Bathildes unbestimmter Blick nicht, wie Crouzet bemerkt, dem einer Madonna, also einer idealisierten Muttergestalt? Dann ließe sich in dieser Szene das ödipale Dreieck schließen und in ihr die Wiederkehr eines alten, schlecht verdrängten Komplexes sehen.

Aber diese Deutung wäre zu einfach: Sie würde das in diesem Roman bis zum Äußersten getriebene Drama der "cristallisation", der Annäherung und Abstoßung der Liebenden, der immer neuen Grenzen, die sie zwischen sich ziehen, mit dem Inzestverbot erklären. Sie würde jenem Maskenspiel, das Valéry beunruhigte, die Zweideutigkeit nehmen.

Warum stürzt Lucien? Weil er nicht bei der Sache ist. Aber worauf richtet sich seine Aufmerksamkeit? Auf ihre Augen, die Ironie, Haß, den "Hang, sich über alles lustig zu machen", ausdrücken könnten. Er stürzt über ihre Unerklärlichkeit. Und als er wieder aufsteigt, sieht er ihr Lächeln, das Häme, Neugier oder Mitleid bedeuten könnte. Später gesteht er sich ein, daß in diesem Augenblick "die Dummheit, verliebt zu sein" begann - mit einer nicht gelingenden Interpretation.

Dies Nicht-Gelingen einer Interpretation, das Nicht-Gelingen selbst einer schicklichen Beziehung wird forciert. Der Reiz, der von Bathilde ausgeht, wird verstärkt durch ihre Scheu vor jeder frontalen Begegnung: Als sie ihn sieht, "verbirgt" sie sich hinter dem "gestickten Mussellinvorhang". Im selben Augenblick, in dem sie die richtige Bewegung vollführt - Sich-Verbergen -, vollführt er die falsche: Sich-Präsentieren. Ihre Verbindung ist nur durch halb-durchlässi-ge Medien von der Art dieses Vorhangs möglich.

Ihre Liebe zu ihm wiederum entflammt erst, als Lucien einen "gräßlichen Verdacht" ins Spiel bringt. Sie errötet tief, und Lucien beobachtet, "daß diese Röte sogar noch ihre Schultern überzog". Es gibt zwar tatsächlich einen Verdacht - Lucien befürchtet, daß sie nur Offiziere von höherem Rang lieben könne -, aber diese Furcht findet keine Nahrung. Und doch bleibt der Verdacht - wie eine ungedeckte Spielmarke, die auf dem Roulettfilz hin- und hergeschoben wird. Bathilde kann sich nicht darüber beruhigen, daß sie den Inhalt des Verdachts nicht kennt, Lucien wagt nicht, ihr dessen Banalität einzugestehen, und beide entwickeln immer neue leere Verdächtigungen.

In ihnen spiegelt sich die nicht zum Ende kommende Phantasie über den anderen. Während alle anderen Maskeraden in Stendhals Roman einem sozialen Zweck gehorchen, scheint das Maskenspiel von Lucien und Bathilde zwecklos zu sein, denn es verhindert ja die Erfüllung ihrer Liebe. Doch diese Liebe erfüllt sich gerade in der Nicht-Erfüllung, in der Verweigerung und in der Nicht- oder Halb-Erkennbarkeit: Er setzt sich, wenn es dunkel geworden ist, ihrem Haus gegenüber. Sie schaut, hinter dem Fenster versteckt, ihm entgegen, kann aber (gewiß eine phallische Allusion) nur das Glimmen seiner Zigarre erkennen. Nicht nur die niemals überwundene Distanz - die schwierige oder gar mißglückende Kommunikation durch Vorhänge, über Briefchen und falsch verstandene Gesten -, sondern auch die niemals überwundene Unsicherheit halten diese "absolute Liebe" (Crouzet) in der Dauer. Ihre Wollust liegt im Erschweren von Verständigung, in der Zurückhaltung von Bedeutung, in einer Art von Retention. Es ist sie eine der Gesellschaft abgetrotzte Anti-Kommunikation. Gleichzeitig bleibt das Risiko - das symbolisiert der Sturz - weitaus größer als bei einem gewöhnlichen Sich-Finden. Diese Liebe zeigt eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem poetischen Verstehen, wie es Valéry beschrieben hat: Die Signifikation, die Erfüllung der Bedeutung, wird durch "unnötige Elemente" verzögert oder gehemmt. Aber diese "Verzögerung oder Erschwerung des Verstehens, die gegenläufig zur Sprache ist, ist es nicht zur Poesie". ("Cahiers")

Und vielleicht war es das, was Valéry verwirrt hat: von Stendhal zu erfahren, daß die Sache nicht nur eine technische, sondern auch eine unheimliche und gar eine erotische Seite hat. Er wäre nicht der erste, der von einem nicht zu deutenden Blick aus dem Sattel geworfen worden wäre.