Blutsrecht mit einem Krümel Boden

Das neue Staatsangehörigkeitsrecht bedeutet einen Fortschritt, doch Euphorie ist unbegründet: Der rassistische Kern bleibt

Hallo, Sie da! Ja, Sie, mit der Zeitung! Hören Sie mal, gehören Sie überhaupt zur Wohnbevölkerung? Blöde Frage, werden Sie sagen, ich wohne hier um die Ecke, also gehöre ich dazu.

Nein, so einfach können Sie sich's nicht machen. Haben Sie überhaupt einen Job? Arbeitslosenversichert? Wenn Sie beide Fragen mit Nein beantworten, dann gehören Sie nach Meinung unseres Innenministers (SPD) nämlich nicht dazu. Anders kann man Otto Schilys selbstgestellten Anspruch, "Staatsvolk und Wohnbevölkerung zusammenzuführen", nicht mit jenem Passus in seinem "Ersten Gesetz zur Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts" zur Deckung bringen, in dem es heißt, daß nur ein solcher Ausländer auf Antrag einzubürgern ist, der "den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Sozial- und Arbeitslosenhilfe bestreiten kann".

Hungern für den deutschen Paß? Unter Rot-Grün könnte es Wirklichkeit werden. Wo das alte Staatsangehörigkeitsrecht einfach ausschloß, wer nicht deutschen Blutes war, wird das neue eine feine Trennlinie zwischen guten Ausländern und schlechten Ausländern ziehen. Gefragt ist dann die- oder derjenige, für die oder den auf dem deutschen Arbeitsmarkt Bedarf besteht; wer keine Probleme hat, seine Unterschrift unter ein Grundgesetz zu setzen, das unter Umständen als Begründung herangezogen wird, um weniger glückliche Landsleute in die Folterkammern ihrer Heimatländer zurückzuschicken; und wer nicht straffällig geworden ist.

Akribisch rechnet das Gesetz vor, daß "bei mehreren Verurteilungen zu Geld- oder Freiheitsstrafen (...) diese mit der Folge zu addieren (sind), daß ein Einbürgerungsanspruch (...) nicht besteht, wenn sich eine Geldstrafe von mehr als 270 Tagessätzen oder eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten ergäbe". Nicht ohne zu bedenken, daß jemand auch zu einer Geld- und einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sein könnte: Dann "erfolgt eine Addition mit der Maßgabe, daß ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe entspricht". Kein Wunder, daß CDU (Ex-Schatzmeister Walther Leisler Kiep: 675 000 Mark Geldstrafe), CSU (Ex-Generalsekretär und heutiger bayerischer Wirtschaftsminister Otto Wiesheu: ein Jahr auf Bewährung) und FDP (Ex-Schatzmeister und heutiger Ehrenvorsitzender Otto Graf Lambsdorff: 500 Tagessätze ˆ 360 Mark) gegen das Gesetz sind.

Doch die Opposition braucht sich nicht zu sorgen. Ihre führenden Köpfe werden nicht ausgebürgert. Selbst, wenn auf sie der Ausschlußgrund zuträfe, daß "eine Verständigung mit dem Einbürgerungsbewerber in deutscher Sprache nicht möglich ist" (was, wie die letzten Tage gezeigt haben, zumindest bei einigen CSU-Politikern zweifelsohne der Fall ist) - als geborene Deutsche gehören sie selbstverständlich allesamt zur Wohnbevölkerung wie zum Staatsvolk. Denn, aller roten und vor allem grünen Euphorie und allen Unterschriftenkampagnen der Union zum Trotz: Im Kern bleibt das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ein Ius sanguinis, ein Blutsrecht, das nur mit Elementen eines Territorialrechts angereichert wurde.

Vor einem Menschenalter war die SPD schon ein Stück weiter. Als der Deutsche Reichstag 1913 das bis heute gültige Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz debattierte, forderte sie: "Einem Ausländer, der sich im Inland niedergelassen hat, darf die von ihm beantragte Einbürgerung nicht verweigert werden, wenn er seine Niederlassung mindestens zwei Jahre ohne Unterbrechung im Inland gehabt hat." Punkt. Heute heißt es: "Ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist auf Antrag einzubürgern, wenn ..." Ja, wenn. Dankenswerterweise geht Schily mit der Vokabel "Integration" etwas sparsamer um als der CDU-Bundesvorstand, der sie allein auf einer DIN A4-Seite zur Begründung der Unterschriftensammlung gegen die Doppelte Staatsbürgerschaft 17mal verwendete. Denn "Integration" hat auch bei Schily ihre Grenzen. "Integriert" wird, wer bereits integriert ist. Alle anderen bleiben gefälligst draußen.

Selbstverständlich war es längst an der Zeit, den Skandal zu beseitigen, daß fast zehn Prozent der Bevölkerung in vielerlei Hinsicht rechtlos sind. Doch Schilys Gesetzesnovelle beseitigt den Mißstand nicht, sie senkt bloß den Prozentsatz. Und dafür legt sie Maßstäbe an, von denen man nicht zu sagen weiß, ob sie ein Entgegenkommen gegenüber der CDU/CSU sind oder des Innenministers eigenen Wertvorstellungen entstammen.

Der Union ist das ohnehin ganz egal: Sie nimmt die Schilyschen Abstriche überhaupt nicht zur Kenntnis. Die Tinte unter dem von Jürgen Rüttgers verfaßten und natürlich "Integration und Toleranz - Eckpunkte für ein Integrationskonzept der CDU/CSU-Bundestagsfraktion" überschriebenen Papier war noch nicht trocken, da fing der hessische Spitzenkandidat Roland Koch Mitte letzter Woche bereits mit dem Sammeln von Unterschriften an. Das häufigste Wort heißt auch im Text seines Plebiszits "Integration". Das selbstgesetzte Ziel von 100 000 Unterschriften allein in Hessen wir er wohl übertreffen: Schon der erste Tag brachte 35 000.

Man sollte sich von der offensichtlichen Dummheit der Unionskampagne nicht täuschen lassen: Innerhalb von zwei Wochen ist Kochs Rückstand zum SPD-Ministerpräsidenten Hans Eichel von 14 auf weniger als sieben Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Wären die in Hessen lebenden Ausländer schon eingebürgert, dann sähe es vermutlich anders aus.