X100 in einem Jahr

Die Bundesregierung ersetzt ein gescheitertes Entsorgungskonzept durch ein noch fragwürdigeres - Hauptsache, kein AKW muß abschalten

Vielleicht war es ja nur eine Ente, als das Handelsblatt vergangene Woche spekulierte, Jürgen Trittin wolle seinen Bonner Ministerposten für ein Kommissarsamt der EU in Brüssel aufgeben. Doch es war zumindest eine glaubwürdige Ente, denn Trittin hat neuerdings ein Image-Problem. Auf der Pressekonferenz nach dem offiziellen Auftakt der Atomkonsens-Gespräche am 26. Januar in Bonn ist passiert, was nicht passieren durfte. Seit Manfred Timm, Chef der Hamburgischen Electricitätswerke und Sprecher der AKW-Betreiber, den Umweltminister für dessen Entgegenkommen in der Atommüll-Frage lobte, ist das vor allem von der bürgerlichen Presse gepflegte Bild des atompolitischen Hardliners und Kämpfers für den Ausstieg ziemlich lädiert.

Trittin hatte zu Beginn des zweistündigen Gesprächs im Kanzleramt zugesichert, in Sachen Atommüll keine "Verstopfungs-Strategie" betreiben zu wollen. Damit war die größte Angst der Energieversorgungsunternehmen (EVU) ausgeräumt: Nach dem Beschluß der Bundesregierung, die Wiederaufarbeitung zum Jahresbeginn 2000 zu verbieten, hatten sie schon die Stillegung der Reaktoren "auf kaltem Wege" befürchtet.

Diese Befürchtungen waren nicht ganz unbegründet. Schließlich hat der seit dem Kontaminations-Skandal vom Sommer 1998 andauernde Transportstopp dazu geführt, daß die kraftwerkseigenen Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente langsam aber sicher an den Rand der Kapazitäten kommen. In zwölf von 19 Reaktoren wird der Platz innerhalb der nächsten zwei Jahre erschöpft sein. Gibt es bis dahin keinen neuen Weg, den heißen Atommüll anderweitig zu lagern oder abzutransportieren, dann ist Schluß. In den AKW Stade und Biblis B ist bereits jetzt kein Lagerplatz mehr vorhanden.

Eigentlich hatten die Atom-Unternehmer darauf gehofft, daß der noch von Trittin-Vorgängerin Merkel verhängte Transportstopp demnächst aufgehoben werden muß, weil neue sogenannte Kontaminations-Schutzhemden - Häute aus Plastik oder Metall für den Castor-Behälter - entwickelt worden sind. Doch mit dem in der Koalitionsrunde am 13. Januar vereinbarten Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung gerieten alle Atommüll-Konzepte ins Wanken.

Der Grund für die Aufregung der AKW-Betreiber waren dabei nicht die bei vorzeitigem Vertragsende fälligen Konventionalstrafen - auch wenn sie dieses Problem öffentlich hochkochten. Schon vor Jahren hatten einige Energieversorger diese Verträge aus eigenem Antrieb gekündigt, weil Schadenersatz-Zahlungen an die WAA-Betreiber Cogéma und British Nuclear Fuels immer noch billiger sind als die Fortsetzung der Wiederaufarbeitung. Für die Kündigung des Kontraktes zwischen dem AKW Krümmel und dem französischen Staatskonzern Cogéma, der die Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague an der Kanalküste betreibt, wurden 20,5 Millionen Euro (40 Millionen Mark) gezahlt.

Jetzt ging den AKW-Betreibern aber alles zu schnell, weil keine Alternativ-Wege vorbereitet waren. Es entspann sich folgender hektische Dialog zwischen EVU und Bundesregierung:

Regierung: Am 1. Januar 2000 ist Schluß mit der Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield.

EVU: Wenn das wirklich umgesetzt wird, müssen wir Reaktoren stillegen, weil nicht genügend Platz in den Lagerbecken der Kraftwerke ist.

Regierung: Dann baut doch Zwischenlager-Hallen an den AKW. Das steht schließlich schon im rot-grünen Koalitionsvertrag. Die Betreiber des AKW Lingen sind mit gutem Beispiel vorangegangen und haben eine Halle mit Stellplätzen für 120 Castor-Behälter beantragt. Da paßt der Atommüll von weiteren 30 Reaktorbetriebsjahren rein.

EVU: "Für die von der Politik geforderte Errichtung von zusätzlichen Zwischenlagerkapazitäten an den Kraftwerksstandorten sind mindestens sechs Jahre notwendig. Ich frage mich aber, ob sich jemand vorstellen kann, daß an zwanzig Standorten in Deutschland Zwischenlager genehmigt und für eine vorerst unbegrenzte Lagerung auch hochradioaktiver Abfälle genehmigt werden können. Das ist genehmigungsrechtlich nicht zu bewältigen." (Hans-Dieter Harig, Chef der Preussen Elektra)

Regierung: Dann könnt ihr, so lange die neuen Zwischenlager nicht fertiggestellt sind, einfach weiter nach Gorleben und Ahaus transportieren.

EVU: Dazu wären aber bis zu 100 Transporte pro Jahr nötig. Ihr könnt uns doch gar nicht garantieren, daß ihr das durchsetzen könnt. Außerdem gibt es für die Zwischenlagerung nicht genügend Behälter.

Regierung: "Aber schauen Sie doch in die Koalitionsvereinbarung: Dort steht unmißverständlich, daß der Einstieg in ein neues Entsorgungskonzept nicht als Hebel für eine vorzeitige Stillegung von Kraftwerken genutzt werden darf." (Wirtschaftsminister Müller)

Damit war Bonn bei Jürgen Trittins Ankündigung angekommen, alles zu tun, um das "Verstopfen" von Atommüll-Wegen zu verhindern. Die Basis für das Umschwenken der Koalitionäre bei den Konsensgesprächen war gelegt. Die öffentlich vorgeschobenen Schwächen im Trittinschen Gesetzentwurf spielten dabei gar keine Rolle, sondern einzig und allein die Frage, wie der Weiterbetrieb der AKW unter allen Umständen sichergestellt und drohende Entsorgungsengpässe vermieden werden können.

Im Gespräch zwischen Kanzler und Konzernchefs am 25. Januar und bei der ersten offiziellen Konsens-Runde am folgenden Tag war man sich schnell einig, den Weg des vermeintlich geringsten Widerstandes zu gehen. Ergebnis: Der Stopp der Wiederaufarbeitung wird auf unbestimmte Zeit vertagt. Ihr Ende wird von Kraftwerk zu Kraftwerk unterschiedlich festgelegt. Die WAA-Transporte von jedem einzelnen Kraftwerk und die Arbeiten in La Hague und Sellafield dürfen so lange weitergehen, bis bei den jeweiligen AKW die neuen Castor-Hallen betriebsbereit sind. Damit gibt es für die Betreiber vorläufig eine lückenlose Entsorgung.

So beschlossen dieselben Leute aus der Bundesregierung, die nach dem 13. Januar voller Entrüstung erklärt hatten, wie unmoralisch und national borniert es wäre, Rücktransporte von deutschem Atommüll aus Frankreich zu blockieren, keine zwei Wochen später, daß sogar weiterhin strahlende Abfälle aus der Bundesrepublik in die Nachbarländer rollen sollen. Und diejenigen, die in ihrem Koalitionsvertrag noch wahrheitsgemäß feststellten, daß das Entsorgungskonzept der alten Bundesregierung gescheitert sei, bastelten sich jetzt ein noch fragwürdigeres zusammen.

Rechtlich müßte allen AKW die Betriebsgenehmigung entzogen werden, wenn es keinen Nachweis über die schadlose Entsorgung der strahlenden Abfälle gibt. Noch 1997 hatte der damalige grüne Staatssekretär im hessischen Umweltministerium, Rainer Baake, der inzwischen auf gleichem Posten im Bundesumweltministerium sitzt, erklärt: "Ebenso wie die Bundesaufsicht entsprechende Entsorgungsauflagen verhindern darf, kann sie aufgrund ihrer Weisungskompetenz die Landesregierungen auch anweisen, ausreichende Entsorgungsnachweise zu verlangen. Sodann würde sich im Falle des Mißlingens der Nachweise die Frage stellen, ob weitergehende Maßnahmen, also insbesondere Betriebseinstellungen, anzuordnen sind."

Doch nun tun diejenigen, die angetreten sind, den Atomausstieg "unumkehrbar" durchzusetzen, alles, um den Reaktor-Betreibern aus ihrer bisher schwersten Entsorgungskrise zu helfen - kreative Verbiegung des Rechts eingeschlossen. Das einzig Positive an dieser Entwicklung ist vielleicht, daß spätestens seit dem Lob für Trittin aus falschem Munde viele Wähler der Grünen wieder klarer sehen und die Unterstützung für die aktiven Atomkraftgegner wächst, die die "Verstopfungs-Strategie" jetzt in eigener Regie umsetzen wollen. Große Aktionen gegen neue Castor-Transporte - auch derjenigen zur Wiederaufarbeitung - sind in Vorbereitung. Konzepte zum Verzögern und Verhindern des Baus neuer Zwischenlager werden entwickelt. Die FAZ kommentierte schadenfroh: "Da kann sich Trittin schon einmal auf viel Spaß mit seinen Freunden von der Anti-Atom-Bewegung gefaßt machen."