Christian Pfeiffer

»Wer unsicher ist, fühlt sich bedroht«

Empörung in Ostdeutschland: Ausgerechnet der Ostalgiker liebstes Kind, das Kindergartensystem der DDR, soll mit schuld sein daran, daß heute für einen Ausländer östlich der Elbe das Risiko, überfallen zu werden, 25mal so groß ist wie im Westen. Die Erziehung zu Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, so die These von Christian Pfeiffer, habe die Herausbildung autoritärer Charaktere begünstigt, die dann auch erheblich öfter gewalttätig werden. Die Theorie ist nicht neu, doch Pfeiffer hat keine Ruhe mehr, seit die Magdeburger Volksstimme sie publizierte. Durchschnittlich dreißig empörte Anrufer aus dem Osten zählt der Kriminologe aus Hannover seitdem jeden Tag. Zu einer Veranstaltung in der Magdeburger Pauluskirche kamen am Mittwoch vergangener Woche mehr als tausend Besucher, der größte Teil von ihnen in der Absicht, dem Westler mal ordentlich die Meinung zu sagen.

Das scheint ja eine turbulente Veranstaltung gewesen zu sein, die Sie in Magdeburg hatten.

Zunächst ist es rund gegangen. Aber nach einer Stunde Abarbeiten von Wut und Empörung über meine Thesen kamen auf einmal andere Stimmen zu Wort.

Wie erklären Sie sich, daß die Emotionen bei diesem Thema so heftig sind?

Meine These wurde bisher immer innerhalb des Westens diskutiert. Westdeutsche Wissenschaftler haben seit längerem die Frage überprüft, ob die Erziehung in der DDR zu der erheblich höheren Ausländerfeindlichkeit und ausländerfeindlichen Gewalt im Osten beigetragen hat. Aber das war so, wie wenn sich Ethnologen untereinander über einen Indianderstamm unterhalten, an dem sie gemeinsam forschen. Den Indianern haben sie ihre Ergebnisse kaum mitgeteilt.

Große Teile der ostdeutschen Öffentlichkeit - auch die Regionalpresse - schotten sich nicht nur gegen wissenschaftliche Erklärungsversuche ab, sondern sogar dagegen, das Problem überhaupt wahrzunehmen.

Die Qualität der Presse im Osten kann mit der des Westens nicht mithalten, und das hat seine Auswirkungen auf den Stand der öffentlichen Diskussion und erklärt auch viel von der Schärfe, in der jetzt mit mir gestritten wird. Es fehlt einfach eine intellektuelle Ebene der Auseinandersetzung.

Mit dem Abdruck Ihres Beitrags in der Magdeburger Volksstimme wurde dieses Muster durchbrochen. Plötzlich ist da "im Herzen des Gegners", wie Sie sich ausgedrückt haben, etwas erschienen, was dort nicht sein durfte, was diese Ost-Identität durchbrochen hat. Eine Provokation.

Die ungeheure Resonanz hatte mit dem Beispiel zu tun, das ich gewählt hatte. Als ich im Rundfunkinterview nach einem Beispiel für Gruppenerziehung gefragt wurde, habe ich das genannt, was mir in Fotos aus DDR-Kindergärten als erstes aufgefallen war: das gemeinsame Auf-dem-Topf-Sitzen. Das ist etwas, was im Westen kaum anzutreffen ist. Es setzt auch ein enormes Training voraus, daß Kinder im Alter von zwölf, dreizehn Monaten so etwas bringen sollen. Aber das war nur ein Einstiegsbeispiel, nicht das zentrale. Ich behaupte nicht, wer auf dem Töpfchen sitzt, wird ein Ausländerfeind. Doch mein Interview wurde reduziert auf diese eine Aussage, und die hat natürlich ungläubiges Staunen und wilde Reaktionen hervorgerufen. Ich habe dann nachgeschoben, daß die Sache etwas differenzierter betrachtet werden muß. Daß eine Erziehung zu Disziplin, Ordnung und Sauberkeit als den wichtigsten Tugenden die Fortsetzung einer Tradition der Unterdrückung von Individualität ist, einer Untertanen-Erziehung, wie sie das Kaiserreich und das Dritte Reich praktiziert haben. Aber das hat erst recht die Gemüter aufgeregt.

Und die politischen Inhalte, die in der DDR gelehrt wurden?

Die Erziehung zum Feindbild, wie sie in den ostdeutschen Kindergärten und vor allem in den Schulen üblich war, die "Erziehung zum Haß", die von den Lehrern in einem DDR-Pädagogikhandbuch verlangt wurde, kann umschlagen zum Ausländerhaß. Auch diese These war nicht beliebt.

Gab es nicht im Westen ein Äquivalent zu dieser "Erziehung zum Haß"? Was in den Schulen über den sogenannten Ostblock unterrichtet wurde, war doch reinstes Ressentiment.

Es gab im Westen nicht die staatliche Anordnung: "Ihr habt in einer bestimmten Ideologie zu erziehen", sondern es gab Positionen - je nach dem, wo der einzelne Lehrer herkam -, die sehr konservativ-reaktionär waren und andere, die zum Beispiel friedensbewegt waren. Auch die Phase der Berufsverbote ist nicht vergleichbar mit dem Gruppendruck, der auf den Lehrern in der DDR lastete, sich an die staatlich erwünschte Linie anzupassen.

Die Sauberkeitserziehung haben Klaus Theweleit und andere auch schon für nationalsozialistische Männer, für Angehörige der Freikorps in der Frühzeit der Weimarer Republik als prägend festgestellt. Ist das vergleichbar?

Ja, durchaus - sowohl in der theoretischen Herleitung als auch in den Folgerungen. Wir können, und das finde ich entscheidend, heute den empirischen Nachweis führen, daß junge Deutsche im Osten stärker gruppenorientiert sind als westdeutsche. Von uns befragte Jugendliche, die in Leipzig an Gewalttaten beteiligt waren, hatten zu 55 Prozent aus einer Gruppe heraus gehandelt. In Stuttgart lag dieser Prozentsatz nur bei 20 Prozent. Das nehme ich als Beispiel für die These, daß die Erziehung im Osten bis heute viel stärker die Einordnung in die Gruppe fördert. Hier steht die Botschaft im Vordergrund: Allein bist du schwach; nur gemeinsam seid ihr stark.

Führt das zwangsläufig zu Ausländerfeindlichkeit?

Die Gegenposition heißt: Wie wird man ein Mensch, der locker, gelassen, freundlich, neugierig mit Fremden umgeht? Der Weg dazu führt über eine Erziehung, die Selbstbewußtsein vermittelt, die bewußt macht, daß man als Individuum gemocht wird - wegen oder trotz seiner Eigenheiten. Wer so stark aufwachsen kann, der hat die Souveränität und Gelassenheit, sich mit Fremden positiv auseinanderzusetzen. Wer dagegen sich seiner selbst nicht sicher ist, der fühlt sich von Fremden bedroht und ist dann geneigt, Zuflucht in Gruppen zu suchen - und sich aus der Gruppe heraus gegen das Fremde zur Wehr zu setzen. Hinzu kommt, daß man in einer Welt aufgewachsen ist, die sich selbst immer idealisiert hat, die immer, wenn etwas schiefging, den äußeren Feinden im Westen die Schuld gegeben hat. Das ist ein Grundmuster des Denkens, das den Boden bestens vorbereitet dafür, später auch "die Ausländer" verantwortlich zu machen für schlimme Dinge: "Die nehmen uns die Arbeit weg", "Die sind Schmarotzer", "Die sollten eigentlich alle raus". 1997 sagten, wie das Deutsche Jugendinstitut soeben festgestellt hat, 19 Prozent der jungen Ostdeutschen "Ausländer raus", aber nur sieben Prozent der jungen Westdeutschen.

Wenn Prägungen so wirkungsmächtig sind, gibt es denn dann überhaupt Handlungsperspektiven?

Aber natürlich. Die wichtigste diskutieren wir gerade. Wenn bestimmte Emotionen entstehen, dann ist das wichtigste, den Menschen bewußt zu machen, woher das kommt. Sie zweifeln zu lassen, ob die automatische Reaktion immer die richtige ist. Also kritische Reflexion zu ermöglichen. Und das geht nur auf dem Weg, daß man sich der eigenen Vergangenheit und der prägenden Einflüsse auf sein Leben bewußt wird.

Ist der Ansatz der akzeptierenden Sozialarbeit, der im Umgang mit rechten Jugendlichen im Osten schon fast dominant ist, in der Lage, das zu leisten?

Die akzeptierende Sozialarbeit ist eine anbiedernde Geschichte, mit der man es sich viel zu bequem macht. Wer bloß auf Akzeptanz aus ist, wird von der Gegenseite durchschaut. Man nimmt dann das, was man von dem kriegen kann, aber deswegen ändert man sich doch nicht. Respektiert wird derjenige, der einem auch mal kräftig die Meinung sagt, der im Dialog nicht hinterm Berg hält mit kritischen Positionen und der gleichzeitig deutlich macht: "Wenn du solche Meinungen hast, dann verdamme ich dich nicht; ich halte dich nach wie vor für einen Menschen, mit dem ich gerne rede und streite und diskutiere." Aber es muß Streit und Diskussion auch geben, es darf nicht drum rum geredet werden.

Ist eine Bewußtseinsveränderung, die man auf diesem Wege erzielen könnte, nicht ein sehr subtiler und damit auch ein sehr langsamer Prozeß? Immerhin hat man es ja vielerorts mit einer Dominanzkultur zu tun, in der es nicht als Provokation gilt, rechtsextrem zu sein, sondern vielmehr, es nicht zu sein.

Es ist allerdings völlig falsch, die Auseinandersetzung über Ausländerfeindlichkeit, über rechte Meinungen auf die Jugend zu begrenzen. Gerade hat eine Analyse in Sachsen-Anhalt ergeben, daß die Elterngeneration noch ausländerfeindlicher ist als die Jugendlichen. Man gewann den Eindruck - so haben die Autoren der Studie das formuliert -, daß die Jugendlichen sich als Vollstrecker eines Volkswillens oder des Willens ihrer Eltern sehen, wenn sie Ausländer angreifen. Dann ist doch das Problem gar nicht die Jugend, die nur das ausagiert, was unter Erwachsenen virulent vorhanden ist. Dann ist es doch eine Auseinandersetzung mit dem Kern der Gesellschaft, den Erwachsenen, die diese Meinungen auch in sich tragen und sie nur aus opportunistischen Erwägungen nicht so scharf nach außen bringen wie die Jugendlichen.

Wenn nun die Prägung durch die DDR langsam in die Vergangenheit rückt, verschwindet das Problem dann von selbst?

Nein. Es verschwindet deswegen nicht, weil eine Riesenzahl von Menschen in dieser langen DDR so geprägt worden ist. Weil die Eltern auch schon in diesem autoritären, gruppenorientierten und von Feindbildern lebenden Erziehungssystem der DDR großgeworden sind. Die wurden sogar noch schlimmer geprägt als diejenigen, die ihre Kindheit in den achtziger Jahren hatten, denn die DDR ist ein bißchen liberaler geworden in der Zeit, ein bißchen weniger linientreu. Die schlimmsten Prägungen hat es vielleicht in den fünfziger und sechziger Jahren gegeben. Das Problem erledigt sich überhaupt nicht von alleine. Es braucht viel an Diskussion und viele kritische Nachfragen, und das wird uns noch lange begleiten. Keine Illusionen.