Hermann Scheer

»Rambouillet war die Eröffnung des Krieges«

Miese Stimmung bei der SPD: Zu einer Zeit, da die Parteispitze eigentlich nur noch Deutsche kennen möchte, scheren einige Sozialdemokraten doch tatsächlich aus - und nennen auch noch die Gründe: Die Verhandlungsführer von Rambouillet mußten wissen, daß der Vertrag, welcher der serbischen Abordnung dort zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, für keine Belgrader Regierung akzeptabel gewesen wäre, meint etwa Hermann Scheer, Bundestagsabgeordneter und Mitglied des SPD-Parteivorstands, und verweist auf den erst jetzt bekannt gewordenen Anhang des Vertrags. Die Nato, so kann man daraus schließen, ist bewußt auf das jetzige Bombardement zugesteuert. Und die Menschenrechte waren ihr dabei egal.

Der Frankfurter Kreis von SPD-Linken hat auf dem Sonderparteitag am Montag eine Resolution gegen den Kriegseinsatz in Jugoslawien eingebracht. Sie haben dieses Papier nicht unterstützt, obwohl Sie sich vor dem Parteitag sehr kritisch zum Bombardement geäußert hatten. Warum?

Den Inhalt unterstütze ich, und kommt es zu einer Abstimmung, werde ich zustimmen. Ich bezweifle, daß eine formalisierte Kampfabstimmung zwischen fortgesetzter militärischer Eskalation und Stopp dieser Eskalation letzterem Ziel nützt. Eine Abstimmungsprozedur lenkt eher davon ab, worum es wirklich geht: um eine breite Diskussion, wie man zu einer politischen Deeskalation kommen kann, die nicht unter dem Vorzeichen steht, daß man die Regierung in Form eines Antrags schädigt. Es ist doch klar, daß viele Delegierte ihre Meinung zurückstellen, wenn sie befürchten, die Regierung zu schädigen. Ein unter diesen Vorzeichen zustande gekommenes Abstimmungsergebnis für die Fortsetzung der Bombardierung würde eine falsche Position festmauern und hätte für die Entwicklung der SPD verheerende Auswirkungen. Käme das Umgekehrte heraus, wäre nicht damit zu rechnen, daß die Regierung sich daran orientiert, womit aber ebenfalls aus dem alle aufwühlenden Jugoslawien- und Kosovo-Debakel eine SPD- und Regierungskrise würde.

In den letzten Tagen hat es immer wieder Vermutungen gegeben - auch in dieser Zeitung -, daß der Rücktritt Oskar Lafontaines im Zusammenhang mit der Verhandlungsführung in Rambouillet und der deutschen Politik gegenüber Jugoslawien zu sehen sei.

Das ist denkbar.

Anfang vergangener Woche haben Sie als erster die Artikel 6, 8 und 10 des Annex B zum 7. Kapitel des Rambouillet-Vertrags thematisiert, die, wie Sie sich ausdrückten, das Kosovo-Abkommen zu einem Nato-Besatzungsstatut für ganz Jugoslawien gemacht hätten. Die Bundesregierung hat den Text des Abkommens als Geheimsache gehandhabt; der Auswärtige Ausschuß des Bundestags verwahrte den Vertragstext im Panzerschrank. Dafür sind neben einigen Politikern der Grünen Ihre Parteifreunde aus der SPD verantwortlich.

Die gesamte Öffentlichkeit - einschließlich des weit überwiegenden Teils der Medien - hat sich eine Meinung gebildet, ohne den Rambouillet-Text zu kennen. Auch die Willensbildung des Parlaments ist ohne Kenntnis des Vertragstextes erfolgt. Ich habe den Eindruck, daß es Regierungsmitglieder gibt, die den Text nicht kennen und ohne Ansehen des tatsächlichen Vertragstextes die These aufgestellt haben, es sei alles politisch Mögliche versucht worden.

Es geht jetzt nicht um ein Nach-Tarocken, sondern um eine Schlüsselfrage: Waren alle politischen Initiativen ausgereizt, wie behauptet wird, oder war das nicht der Fall? Die Analyse des Rambouillet-Textes zeigt eindeutig, daß es nicht der Fall war. Damit steht die Legitimation des Übergangs zur militärischen Aktion in Frage. Gleichzeitig zeigt das aber auf, wo die Spielräume liegen könnten, um das Problem nicht-militärisch zu lösen.

Ausgerechnet so berühmte Antimilitaristen wie die CDU-Männer Volker Rühe und Wolfgang Schäuble und CSU-Chef Edmund Stoiber haben nun gewarnt, das Bundeswehr-Kontingent in Mazedonien könnte leicht zur Vorhut einer Interventionstruppe in Serbien werden.

Hier muß man deutlich unterscheiden. Eine Friedenssicherungstruppe, die, mit einem UN-Mandat ausgestattet, vor Ort in neutraler Rolle jeder Gewalthandlung aktiv entgegentritt, gleich von wem sie ausgeht - es ist ja nicht so, daß im Kosovo-Konflikt die Gewalt immer nur von Serben ausgegangen wäre -, die zur Entflechtung führt und Rückkehrmöglichkeiten eröffnet, wäre etwas fundamental anderes als der Einsatz von Truppen für die Fortsetzung des jetzigen Luftkriegs auf dem Boden.

Wenn man diese Sachverhalte nicht voneinander unterscheidet, dann findet man keine Antwort auf die jetzige militärische Eskalation. Es gibt viele, die es fürchterlich finden, daß dieser Luftkrieg stattfindet, aber unsicher in ihrer Haltung sind, weil sie mit der Frage konfrontiert sind, was man denn sonst tun solle, um Gewalthandlungen wirkungsvoll zu unterbinden. Diese Schlüsselfrage wird völlig unpräzise diskutiert. Das führt dann zu den gegenwärtigen Vergröberungen, daß man einerseits nur Pazifisten sehen will, die angeblich die Augen verschließen gegenüber Exzessen, während andererseits Bombardierungen und möglicherweise weitere militärische Eskalation humanistische Gründe für sich in Anspruch nehmen, obwohl es ihnen größtenteils eher um die Rolle der Nato und ihr Prestige geht.

Sie sehen also weder im Anknüpfen an den Rambouillet-Vertragsentwurf noch in der Errichtung eines Protektorats eine Lösung?

Die Nato hat sich in dem Bürgerkrieg, der im Kosovo stattfindet, auf eine Seite geschlagen. Damit ist sie zur Kriegspartei geworden. Wenn nach einer uferlosen Zerstörung irgendwann Nato-Truppen einmarschieren sollten, die gar keinen Krieg mehr führen müßten und ein Protektorat errichten würden, dann wäre die Auseinandersetzung damit nicht zu Ende. Dann würde dort der Übergang zu einem Partisanenkrieg drohen. Solche Kriege dauern lange. Und Partisanen brauchen keine Flugzeuge und keine Panzer.

Als mögliche Lösung haben Sie eine Regionalkonferenz der OSZE vorgeschlagen. Doch die OSZE ist in Serbien ebenfalls diskreditiert, weil sie mit der Nato bis zu deren ersten Luftschlägen eng zusammengearbeitet hat.

Wo waren die Fehler? Der größte Fehler war: Die Nato wollte - das ist in dem Rambouillet-Vertrag expressis verbis zu lesen, obwohl sie als Ziel etwas anderes formuliert hatte -, dieses Problem alleine lösen. Die Friedenstruppe wollte man nicht, wie es noch in der Bundestagsentschließung am 22. Februar heißt, aus Nato- und Nicht-Nato-Staaten zusammensetzen, sondern nur noch aus Nato-Staaten. Rußland wurde damit ausgeschlossen. Daß man meinte, auf diesem Wege besser zu einer Konfliktlösung zu kommen, war bestenfalls naiv. Bestenfalls! Es ist jedenfalls ein klarer Beleg, daß man nicht alle politischen Möglichkeiten ausgeschöpft hat.

Fehler Nummer zwei: In den Rambouillet-Vertrag hat man praktisch ein Nato-Truppenstatut für ganz Jugoslawien hineingeschrieben. Es ist unvorstellbar, daß irgendeine Regierung so etwas unterschreiben könnte, es sei denn eine Regierung, die nach einer militärischen Niederlage eine Kapitulationsurkunde unterschreibt, wie das 1945 in Deutschland der Fall war.

Dritter Fehler: die entscheidende Frage, was eigentlich im Kosovo geschieht, wenn nach drei Jahren das Referendum kommt. Erklärtes Ziel des Rambouillet-Prozesses war es, keinen neuen, völlig selbständigen Staat zu schaffen, der sich dann wiederum nach einem ethnischen Prinzip gründen würde, weil damit nur die Serie von Fehlentwicklungen weiter fortgesetzt würde. Doch am Schluß stand im Rambouillet-Vertrag eine Volksabstimmung über den künftigen Status des Kosovo - und wenn das unkonditioniert formuliert wird, ist klar, was das bedeutet: Einen selbständigen Staat Kosovo, der sich zum Beispiel in kürzester Zeit Albanien anschließen könnte. Auch in diesem Fall war immer klar, daß das niemals eine serbische Unterschrift kriegen kann - gleich, wer in Serbien regiert.

Daraus ergibt sich eindeutig, daß man gegen die eigenen Ausgangsziele und gegen die Erkenntnisse gehandelt hat, welche diese Ziele definiert haben. Es ergibt sich, daß man sich de facto auf die Seite der UCK geschlagen hat. Und daß dies im Grunde die Eröffnung des Krieges war.

Aber mit dem Krieg hat man Fakten geschaffen, die eine Lösung ohne staatliche Abspaltung praktisch undenkbar erscheinen lassen.

Eine Scheinlösung, die eine Kette von Folgeproblemen nach sich zieht, welche wieder nach Gewalt und Blut riechen, ist keine Lösung. Wenn man zu einer Stabilisierung und zum Ende des wechselseitigen Abschlachtens und Vertreibens kommen will, bleibt für das ganze ehemalige Jugoslawien überhaupt kein anderer Weg übrig, als wieder zu einem Miteinander aller zu kommen. Der Zweite Weltkrieg hat Europa auch zu einem Schlachthaus gemacht, und anschließend wurde gerade deshalb der Prozeß der europäischen Integration in Gang gesetzt. Auch für diese Region bleibt gar kein anderer Weg übrig.

Eine Konfliktlösung muß proportional, glaubwürdig und gerecht sein, und sie kann nicht gegen die Serben durchgesetzt werden. Die Serben sind das größte Volk in der Region; jeder zweite im ehemaligen Jugoslawien ist Serbe, und die Serben leben praktisch überall. Wer nicht weiß, daß eine Friedensregelung gegen die Befindlichkeit der serbischen Bevölkerung nicht möglich ist, weiß nicht, wovon er redet. Wenn zum Beispiel richtigerweise von der Rückkehr der Vertriebenen gesprochen wird, dann gehört dazu natürlich auch, daß man den 600 000 aus Kroatien vertriebenen Serben die Rückkehrmöglichkeit eröffnet.

Statt dessen wird die ganze Zeit gegenüber den Serben ein doppelter Maßstab praktiziert. Da darf man sich nicht wundern, wenn sich die serbische Bevölkerung hinter Milosevic zusammenschließt. Man kann Politik nicht ohne historische Grundkenntnis über die wirklichen Probleme machen. Wegen der Massaker der Deutschen in Serbien im Zweiten Weltkrieg hat Deutschland zumal auch gegenüber Serbien eine ähnliche moralische Verpflichtung wie gegenüber Polen. Das wird hier nie zur Kenntnis genommen. Ich habe nicht den geringsten Anlaß zu beschönigen, was Milosevic oder andere machen. Tudjman, der die Vertreibung der Serben und Massaker an diesen in der Krajina zu verantworten hat, ist nicht besser als Milosevic. Aber er ist ein Freund des Westens. Man muß bei politischen Lösungen seinen Verstand gebrauchen und glaubwürdig sein, also ohne doppelte Moral.