Das noch schrecklichere Jahr

Am spannendsten an der diesjährigen Tour de France ist die Frage, ob sie als Ereignis überleben kann

Vielleicht hatten die Profi-Radfahrer nach der letzten Tour de France wirklich gedacht, nie wieder ein solches annus horribilis zu erleben wie im Jahr 1998. Damals hatte die französische Staatsanwaltschaft während des Traditionsrennens nicht nur die Quartiere einiger Teams durchsucht und dabei Beweise für Doping sichergestellt, sondern auch Mannschaftsbetreuer verhaftet, das Festina-Team ins Untersuchungsgefängnis gesperrt und damit eine ganze Sportart in Frage gestellt.

1999 sollte es jedoch für den Radsport noch viel schlimmer kommen. Denn plötzlich war nicht nur Frankreich zum gefährlichen Terrain geworden, und Inhaber eines weltweit bekannten Namens zu sein, schützte selbst in der Heimat nicht mehr: Am 5. Juni dieses Jahres war sogar der Giro- und Tour-Sieger des Vorjahres, der Italiener Marco Pantani, kurz vor seinem erneuten Triumph vom Giro d'Italia ausgeschlossen worden. Am 29. Juni dann durchsuchten Drogenfahnder der italienischen Guardia Civil 30 Privathäuser. Nicht nur die von für italienische Teams startenden Radlern wie etwa Mario Cippolini, Pavel Tonkov und dem Giro-Sieger Iwan Gotti - auch die Wohnung des Ex-Stars und zweifachen Weltmeisters Gianni Bugno wurde gefilzt.

Die Ergebnisse dieser Durchsuchungen wurden bisher zwar noch nicht veröffentlicht, aber aus Ermittlerkreisen konnte man laut des Fachmagazins Radsport doch erfahren, daß die Polizisten "viele Flaschen ohne Aufdruck gefunden haben, in denen man Wachstumshormone vermutet, viele Pillen, die Testosteron enthalten könnten sowie Emagel, eine Substanz, die verwendet wird, um zu hohe Hämatokritwerte zu kaschieren". In der Wohnung eines Rennfahrers sollen darüber hinaus angeblich EPO-Ampullen entdeckt worden sein.

Und auch die Fahrer des deutschen Team Telekom erwischte es in diesem noch viel schrecklicheren Jahr. Hatte man sich 1998 noch völlig entsetzt und voller Unverständnis über die Doping-Vowürfe gegenüber den anderen Teams geäußert und dabei unentwegt die eigene Sauberkeit beteuert, war man am 14. Juni dieses Jahres schließlich selber dran. "Die Werte spielen verrückt" hatte der Spiegel eine Geschichte betitelt, in der es um Doping beim Team Telekom ging, belegt durch Zeugenaussagen und schriftliche Einnahme-Pläne. Die Reaktionen auf diese Enthüllungsstory waren unterschiedlich: Während man sich bei der die Tour live übertragenden ARD in einem ziemlich durchsichtigen Kommentar noch über die angebliche Haltlosigkeit dieser Vorwürfe beschwerte, reagierte man andernorts, so Spiegel-Sportchef Alfred Weinzierl gegenüber Jungle World, "eher positiv, nach dem Motto 'endlich sagt's mal jemand'".

Was blieb, waren ein ziemlich dumm dastehender Internationaler Radsportverband und um die Rettung des Images bedachte Tour de France-Veranstalter. Denn traditionelle Sponsoren der Frankreich-Rundfahrt, wie das auf dem berühmten Gelben Trikot vertretene Geldinstitut Crédit Lyonnais, befürchteten einen Imageverlust. Obwohl der Uhrenhersteller Festina, der das im letzten Jahr von der Tour ausgeschlossene gleichnamige Team unterhält, ganz andere Erfahrungen gemacht hatte. "So ein Skandal erhöht die Markenbekanntheit gewaltig", erklärte Thomas Körner von Festina Deutschland - das Unternehmen konnte seinen Umsatz verdreifachen.

Andernorts fürchtete man mangels Stars um die Attraktivität der Tour. Neben z.B. dem zunächst vom Verband aufgrund Dopingverdachts gesperrten Richard Virenque und dem Vorjahressieger Marco Pantani hatte auch der deutsche Star Jan Ullrich frühzeitig seinen Startverzicht verkündet.

Und damit z.B. deutsche Sieghoffnungen zunichte gemacht: Der Fernsehsender Sat.1 kündigte an, mangels nationaler Bedeutung in diesem Jahr keinen Berichterstatter nach Frankreich zu schicken. Bei der ARD setzt man dagegen auf den am sportlichen Geschehen interessierten Zuschauer: "Als Sportereignis bleibt die Tour ja bestehen!" erklärte der Tour-Kommentator Hagen Boßdorf gegenüber Jungle World am vorigen Mittwoch, und fügte hinzu: "Einschaltquoten wie im vorigen Jahr, als zu Spitzenzeiten um die sieben Millionen Zuschauer die Live-Berichterstattung verfolgten, werden wir in diesem Jahr daher sicher nicht erreichen. Denn die Deutschen brauchen Helden aus dem eigenen Land, um Sportereignisse wirklich interessant zu finden. Aber das ist auch nicht so schlimm. Denn nun kann man die Tour de France nüchterner betrachten, ohne die deutsche Brille eben."

Weil für ihn "der Star der Tour immer die Tour ist" ergeben sich seiner Meinung nach bei der Frankreich-Rundfahrt 1999 neben den sportlichen auch völlig andere Betrachtungsweisen: "Vielleicht wird es in diesem Jahr genauso spannend sein zu sehen, ob sich die Tour als Sportereignis halten kann." Als sportlich zweitklassig mochte er das reduzierte Rennen dieses Jahres trotz des Fehlens von Jan Ullrich und Co. auf keinen Fall sehen, denn "es werden auch in diesem Jahr zwei oder drei Rennfahrer am Ende der Tour de France Stars sein". Boßdorf tippte letzte Woche auf den US-Amerikaner Bobbie Julich vom italienischen Cofides-Team und Michael Boogaerd vom niederländischen Stall Rabobank.

Nur wenige Tage später war das Starter-Feld bei der Tour allerdings schon wieder ein völlig anderes. Denn die Tour-Veranstalter hatten sich schließlich dem Druck des Weltverbandes UCI und einiger Sponsoren gebeugt und dem ehemaligen Festina-Fahrer Richard Virenque die Starterlaubnis erteilt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, wie unglücklich man mit dieser Entscheidung war: "Wir haben einen Rückschlag beim Versuch erlitten, den Doping-Skandal des Vorjahres hinter uns zu lassen", erklärte Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc unmittelbar danach auf einer Pressekonferenz in Paris und fügte hinzu: "Wir werden Virenque nun wie jeden anderen Fahrer behandeln."

Jan Ullrich wird jedoch auch weiterhin nicht starten, und schuld daran ist nach Meinung vieler deutscher Radsportfans auf jeden Fall der Spiegel. Der darf wegen eines von Telekom erwirkten Gerichtsurteils vorläufig nicht mehr behaupten, daß bei den Telekoms genauso umfassend gedopt wird wie bei allen anderen startenden Teams auch, kann jedoch auch derzeit nichts tun, um seine Recherchen zu untermauern. "Man hat uns mit dieser Einstweiligen Verfügung juristische Fußfesseln angelegt, und das ist immer unangenehm", sagt Sportchef Alfred Weinzierl.

Der Spiegel sieht sich in einer Zwickmühle: "Telekom hat uns z.B. öffentlich vorgeworfen, daß wir in unserem Artikel keine Namen nennen. Genau das ist uns aber aufgrund des vom Team Telekom erwirkten Urteils augenblicklich verboten. Falls wir also unseren ersten Bericht jetzt durch weitere Zeugen und Beweise stützen wollten, dann dürften wir dies nicht, weil wir ja damit den Grundtenor aufrecht erhalten würden." Der Spiegel wird deshalb gegen die Einstweilige Verfügung juristisch angehen.

Daß nur wenige Tage nach der Enthüllungsgeschichte des Spiegel die Telekom-Fahrer reihenweise von ihren Rädern fielen und sich Verletzungen zuzogen, die einen Tour-Start unmöglich machten, will Weinzierl jedoch ausdrücklich nicht als Beleg für den Wahrheitsgehalt der Spiegel-Recherche sehen: "Niemand bricht sich freiwillig den Ellenbogen, da bin ich mir ganz sicher."

Dazu, ob Jan Ullrichs Knie-Verletzung ohne den Artikel schneller und besser verheilt wäre und er dann doch an der Frankreich-Rundfahrt teilgenommen hätte, möchte er nichts sagen. "Wenn man sich die Sprache der Radprofis präzise anhört, dann stellt man rasch fest, daß kaum einer je behauptet hat, er dope nicht", konstatiert er, "die meisten sagen: 'Ich fahre sauber.' Diesmal könnte es ein Feld geben, das zum größten Teil wirklich sauber fährt." Nicht wegen des Spiegel-Artikels, sondern wegen der französischen Staatsanwaltschaft, die "auch in diesem Jahr ihren Kampf gegen Doping weitergeführt hat und wohl auch weiterführen wird". Die Teams, so Weinzierl weiter, seien daher sehr verunsichert, "vielleicht gibt es in diesem Jahr tatsächlich einen sauberen Toursieger".

Verlassen kann man sich darauf jedoch nicht. Denn Doping ist selbst dort verbreitet, wo man es eher nicht vermutet: Der Inhaber des kirchlichen Stundenweltrekords im Radfahren, ein mittlerweile 53jähriger italienischer Pfarrer, der unter anderem im Jahr 1978 die Rundfahrt Milano - Lourdes - Milano organisiert hatte, führte sein Leistungsvermögen, ähnlich wie Jan Ullrich, stets auf "gesunde Ernährung und hartes Training" zurück. Auf leistungsfördernde Substanzen mochte jedoch auch er dabei nicht verzichten: Der Priester trank selbst während der Wettkämpfe täglich einen halben Liter Rotwein.