Blut im Wasser

Sonne, Meer, Wind und Wüste: Mediterranes Denken bei Camus, Grenier und Valéry.

Der junge Mann will baden. Aber statt sich gleich ins Wasser zu stürzen, nähert er sich dem Meer vorsichtig, rücksichtsvoll, gemessen. Auf einer Mole genießt er des Lichtes. - Jenes mittelmeerischen Lichtes, das er später als den Ursprung des geometrischen, des rationalen Denkens preisen wird. Dann senkt er den Kopf und blickt das Werk des Lichtes an, das, was es vor ihm ausbreitet.

"Auf einmal, als ich den Blick nach unten richtete, gewahrte ich, wenige Schritte von mir entfernt, in dem wunderbar ebenmäßigen und durchsichtigen Wasser ein erschreckendes und großartiges Chaos, das mich frösteln ließ. Dinge von einer widerlichen Röte, Klumpen von zartem Rosa oder von einem tiefen und düstern Purpur waren da angelandet ..." Fischer haben am Vortag im Hafen ihren Fang ausgeweidet und die Innereien ins Meer geworfen. Nun liegt dieses schillernde Gekröse, aus dessen Innerem blutige Nebel quellen, vor den Augen des jungen Mannes, der eben noch der Sonne und mit ihr dem Sichtbaren gehuldigt hat.

"Ich konnte dem, was ich sah, weder entfliehen noch standhalten, weil der Ekel, den dieser Leichenhaufen erregte, in mir mit dem Eindruck tatsächlicher und einzigartiger Schönheit rang (...)." Denn "das Auge liebt, was die Seele verabscheut".

Die Sonne, Inspiratorin der projektiven Geometrie, der Ordnung, erweckt hier im "wunderbar" transparenten Meer ein anwiderndes und doch überwältigend schönes Chaos zum Leben. Zugleich scheint die Natur selbst von diesem Schauspiel abgestoßen, ein "goldenes Frösteln" kräuselt die Wasseroberfläche; aber dies Gold kann das Schreckliche nicht überdecken, es ist "nicht wahrnehmbar über all der Schlächterei". Die Natur, ist man versucht anzunehmen, spiegelt die Regung des jungen Mannes, sie erschauert.

Doch für Paul Valéry, der diesen Badeausflug in seinen "Inspirations méditerranéennes" (1933) schildert, gibt es keine Natur. Im selben Aufsatz zeichnet er die Sonne - die man niemals direkt anblicken könne, von der man nur den Widerschein ertrage - als eine solare und solitäre "allesbeherrschende", ja "transzendente Macht": "Was wir sehen, ist durch die Sonne zusammengefügt (...)." Die Sonne figuriert als Sinnbild des Moi pur. Dem Wasser des Meeres aber legt er jenes Attribut bei, das er sonst auf seine Sprache angewandt sehen will: Es ist limpide, klar, durchsichtig. Das Meer sei wie die Kunst ein "kristallinisches Medium".

Auch diese magenumstülpende Schönheit also, könnte man zusammenfassen, ist eine projektive, konstruktive Leistung des Bewußtseins, auch dieses Chaos ist eine Projektion des solaren, ordnenden Ich auf das Medium der Sprache oder der Kunst.

Nur zwei Generationen nach Valéry ist dem mediterranen Denken - obwohl ansonsten alle Bestimmungsstücke beibehalten werden: Sonne, Meer, der gegenwärtige Akt des Sehens, die Überlegenheit des Auges über die Seele - gerade dieser egozentrische Gedanke verlorengegangen.

Albert Camus beschreibt in den "Noces" (1936/37) die Empfindungen während des Schwimmens im Meer: "Ins Wasser eingetaucht, ist da der Kälteschauer, das Hochsteigen eines kalten und undurchsichtigen Leims, dann mit dem Untertauchen das Ohrensausen, die schleimende Nase und der bittere Mund - das Schwimmen, die vom Wasser glänzenden Arme, aus dem Meer aufgetaucht, um sich in der Sonne zu bräunen, und zurückgestürzt, indem sich alle Muskeln winden; das Rieseln des Wassers über meinen Körper, das tumultuöse Besitzergreifen der Wellen durch meine Beine - und die Abwesenheit des Horizonts." Auch hier zunächst die Überwindung von Schauer und Ekel. Doch dann fügt sich der Körper in den Stoff, er mißt sich mit den Kräften des Meeres, er eignet sich die Wellen an - und gleichzeitig verschwindet der Horizont. Indem der Leib Teil der Umgebung wird, verliert sich die Ordnung.

An einer anderen Stelle der "Noces" schildert Camus ein "gewaltsames Bad in Sonne und Wind". Der heiße, sandige Wind der Wüste gräbt sich in die Haut, er schreibt in den Körper: "Ich entzifferte die Schrift der Welt" - aber nur um den Preis, Teil der Welt geworden, völlig nackt zu sein; er fühlt zur gleichen Zeit "die Abtrennung von mir selbst und meine Gegenwart in der Welt". "Ich bin dieser Wind und in diesem Wind (...)."

Camus' mittelmeerisches Denken ist eines der vollkommenen Immanenz. Das Ich, diese in der Sonne versinnbildlichte transzendente Macht, die Valéry (das empirische Ich) eine schauerliche Entdeckung machen ließ und dieser zugleich - wenn auch fröstelnd - standhielt, scheint ausgelöscht. Der Mensch ist den Gewalten schutzlos ausgeliefert. Vom Licht heißt es in den "Tagebüchern" Camus', es dringe in den Körper ein. Sonne und Licht erscheinen als verhüllend, verzehrend: "Zu manchen Stunden ist das Land schwarz von der Sonne", vom "Gewicht der Sonne" ist die Rede, von "dunklen Flammen" ("Noces"). Noch in seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman "Der erste Mensch" (1959) heißt es, das Leben in Algerien entfalte sich unter einer "beständigen, grausamen Sonne".

Jean Grenier, der Philosophielehrer von Albert Camus in Algier, hatte von einem "Licht ohne Hoffnung" gesprochen, und dieses Wort findet sich in vielen Abwandlungen auch im Frühwerk Camus'. Grenier, der, Valéry zu Ehren, selbst eine Sammlung seiner (Greniers) Essays unter dem Titel "Inspirations méditerranéennes" (1939) herausgegeben hat, ist so etwas wie der Mittler zwischen dem Denken des Ich und dem Denken des Außen, zwischen Valéry und Camus. Bezeichnend etwa diese Passage aus "Les Iles" (1933): "(Ich) ließ mich durchdringen von den Spielen des Lichts auf dem Marmor. Mein Geist verlor sich in den Spielen dieser Durchsichtigkeit, dieses Widerstands, hernach fand er vollständig zu sich zurück."

Das Licht ist zugleich transparent, enthüllend (wie bei Valéry) und verhüllend, Widerstand bietend (wie bei Camus). Es besitzt, wie alle Lieblingsgegenstände Greniers, eine Doppelnatur. "Wir baden in der Welt wie das Kind im Mutterleib, und wir haben uns nicht die Frage zu stellen, ob wir zu etwas anderem als ihr geboren werden oder sterben", faßte Jean Clair die Philosophie Greniers zusammen. Doch das Fragen endet nicht. Trotz Greniers transzendenzloser Gegenwärtigkeit behauptet sich in seinen Schriften - als letzter resistenter Rest von Transzendenz - ein fragender Geist; das Ich findet am Widerstand des Lichtes zu sich zurück.

Grenier und Camus gehen beide vom Nullpunkt einer "Indifferenz" aus. Doch hier beginnen auch die Unterschiede: "Wenn (Grenier) sich erlaubt, von 'le grand Tout' angezogen zu werden, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind, und in dem sein Leben eins wird mit dem der Tiere, Bäume usf., dann gerade wegen seiner scharfen Bewußtheit der Unvollständigkeit, Endlichkeit und nicht zu sichernden Kontingenz seiner menschlichen Existenz." (J.S.T. Garfitt, "The Work and Thought of Jean Grenier", London 1983) Erlaubt sich ein Geist, in der Sonne zu zergehen? Kommt ein Bewußtsein durch Öffnung und Zweifel zum Gedanken der Indifferenz? Löst sich also ein stolzes, souveränes Ich zwar selbst auf, bestätigt aber immerhin durch diesen Akt der Selbsterniedrigung - Greniers humilitas - seine Souveränität? - Oder ist dieses Ich vielmehr - wie beim jungen Camus - einem "gewaltsamen Bad" zerstörerischer Mächte ausgesetzt?

Das sind nicht allein philosophische oder ästhetische Fragen. Camus nimmt im Schreiben die Position des seiner Souveränität beraubten, analphabetischen, kulturlosen, armen und unterdrückten, gleichwohl den alltäglichen Genüssen hingegebenen und aus ihnen schöpfenden Algeriers ein. Er sieht sich als ein von Sonne, Wüste, Meer Geschriebener. Doch indem er selbst schreibt, ist er aus dieser schriftlosen, unmittelbaren, hilflosen, heteronomen Welt, aus dieser gewalttätigen Natur bereits herausgetreten: "Es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit, vom Leben Zeugnis abzulegen." ("Noces") Schreiben ist Suspendierung des Lebens, ist Suspendierung der Natur und der Zeit. Der Kolonialisierte, der schreibt, ist bereits kein Kolonialisierter mehr - es sei denn, ein von der Sprache Kolonialisierter.

So zeigt sich die Bewegung des mittelmeerischen Denkens von Valéry über Grenier zu Camus zwar als eine zur Auflösung des bürgerlichen, sonnengleichen, ordnenden Ich hin, sie ist aber zugleich auch eine hin zum Aufbegehren, zur Unterminierung des abendländischen Denkens. Camus hatte in "Der Mensch in der Revolte" das Mediterrane bekanntlich der "deutschen Ideologie" entgegengestellt (ob sich diese von Hegel oder von Heidegger herleitet, ist manchmal ganz unwichtig). Er nimmt die Skepsis nicht aus der Tradition, sondern aus der Umwelt seiner Kindheit. Indem er allein dem Körper Wahrheit zubilligt, billigt er sie dem Tode zu. So sind für ihn Genuß und Verzweiflung untrennbar verbunden. Und beides erwächst aus dem "unbesiegbaren Sommer" Algeriens.

Garfitt spricht deshalb von einem "instinctive approach". Claudia Lehmanns ansonsten enttäuschende Studie zum Thema nennt Camus' Aufstand gegen die deutsche Ideologie mit einer glücklichen Formulierung eine "schöpferisch gewordene Idiosynkrasie". Lou Marin verweist auf starke libertäre und antikoloniale Momente in Camus' mittelmeerischem Denken. Gerade die Ausrichtung am Maß, am "pensée de midi" wirkt auflösend, antiideologisch. Unter dem "harten Licht" zeigt sich, daß die "Idole auf tönernen Füßen" stehen ("Noces").

Die Abkehr von den geschichtsmächtigen Ideologien des alten Europa war schon bei Valéry eine Rückkehr zu einem noch älteren Europa - dem der Griechen. Wo Valéry versucht, seinen Blick nicht von der schrecklichen Schönheit abzuwenden, stellt Camus fest: "Wenn die Griechen von der Verzweiflung angerührt wurden, so war es immer durch die Schönheit und durch jenes Bedrückende, das sie birgt." ("Helenas Exil") Wenn aber Camus fordert, nicht länger die "Schönheit zu leugnen", so fordert er zugleich, sich ihr auszusetzen, ohne noch der Hoffnung Raum zu geben, man könne ihr standhalten.

Claudia Lehmann: Die mittelmeerische Welt als geistige Landschaft und Geschichtsraum im Frühwerk von Albert Camus. Peter Lang, Ffm., Berlin, Bern u.a. 1998, 193 S., DM 65

Lou Marin: Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 1998, 326 S., DM 39,80