Simulierter Bürgerkrieg

Nach dem Votum für die Unabhängigkeit verwandeln marodierende Milizen Ost-Timor in ein Flammenmeer.
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Mehr als 430 000 Ost-Timoresen gaben vorletzten Montag ihre Stimme ab, um über den Verbleib ihres seit 1975 militärisch besetzten Landes bei Indonesien oder den Weg in die Unabhängigkeit zu entscheiden - die Wahlbeteiligung lag bei 98,6 Prozent. Vielleicht war es der Mut der Verzweiflung, der sie ungeachtet aller Einschüchterungsversuche durch den seit Monaten andauernden Terror pro-indonesischer Milizen zur Wahlurne trieb.

Entscheidend für die Überwindung der Angst und die Teilnahme an der Abstimmung war jedoch zweifelsohne das Vertrauen in die UN-Mission für Ost-Timor (Unamet), die für die Durchführung der Abstimmung verantwortlich war. Zu diesem Vertrauen beigetragen hat die beachtliche Leistung der Unamet, der es gelungen war, 452 000 Abstimmungsberechtigte zu registrieren, obwohl mehrere Zehntausend Menschen vor dem Milizenterror Zuflucht in Flüchtlingslagern gesucht hatten, die weit ab von den Registrierungsstellen lagen.

Erwartungsgemäß stimmte die überwältigende Mehrheit - 78,5 Prozent - für die Unabhängigkeit, wie am Samstag der Leiter der Unamet-Mission Ian Martin in Dili und UN-Generalsekretär Kofi Annan in New York zeitgleich bekanntgaben. Berücksichtigt man die Zahl der indonesischen Einwanderer in Ost-Timor, die etwa acht bis zehn Prozent der Stimmberechtigten ausmachen und sicherlich größtenteils für den Verbleib bei Indonesien stimmten, entschieden sich also fast neun von zehn Ost-Timoresen für die Unabhängigkeit.

Indonesiens Präsident Bacharuddin Jussuf Habibie, Oppositionsführerin Megawati Sukarnoputri und selbst ein hoher Brigadegeneral erklärten schweren Herzens, das Ergebnis anzuerkennen. Am Mittwoch soll nun endlich auch der in Jakarta noch unter Hausarrest stehende Widerstandsführer Xanana Gusmao freigelassen werden.

Dennoch ist dieses Abstimmungsergebnis kein Anlaß zur Freude, denn seit dem Tag der Stimmabgabe verschärft sich die Situation in Ost-Timor quasi stündlich. Bereits lange vor dem Referendum hatten der Anführer der Paramiliz Aitarak (Dorn), Enrico Guterres, und andere gedroht, im Falle einer Niederlage Ost-Timor in ein "Meer von Flammen" zu verwandeln. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, die Ermordung Dutzender Flüchtlinge in Dili sowie in einer Kirche in Liqui ç a waren nur der Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte.

Am vergangenen Sonntag stand die Hauptstadt Dili in Flammen. Nach Augenzeugenberichten kam es gleichzeitig in Becora, einem Außenbezirk Dilis, der als Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung gilt, zu einem Massaker, dem möglicherweise bis zu 100 Menschen zum Opfer gefallen sind. Nach Agenturangaben sollen auf der gesamten Inselhälfte bis zum vergangenen Montag mindestens 170 Menschen getötet worden sein. Angegriffen wurden auch das Büro der Menschenrechtsorganisation Yayasan HAK, und selbst vor dem Amtssitz des Friedensnobelpreisträgers Bischof Carlos Belo machten die Milizen nicht halt.

Ähnlich wie im Hauptquartier von Unamet, dessen Versammlungsraum inzwischen einem Flüchtlingslager gleicht, suchten viele Menschen im Haus des Bischofs Schutz vor Verfolgung. Wie es heißt, sollen alleine dort am Sonntag bis zu 25 Menschen umgebracht worden sein. Ausländische Journalisten und Wahlbeobachter flohen oder wurden auf Geheiß ihrer Botschaften evakuiert, nachdem einige von ihnen auf der Straße angegriffen worden waren und ihre Unterkünfte unter Beschuß gerieten. Selbst Unamet-Büros in Maliana, Ermera und anderen Orten mußten evakuiert werden, nachdem die Milizen in diesen Städten zahlreiche Häuser abgebrannt und Angriffe auf Unamet-Posten gestartet hatten. Mindestens vier lokale Mitarbeiter von Unamet kamen dabei ums Leben, sechs weitere werden noch vermißt.

Entsprechend dem UN-Übereinkommen, das die Besatzungsmacht Indonesien am 5. Mai 1999 mit der ehemaligen Kolonial- und bis dato nach dem Völkerrecht zuständigen Mandatsmacht Portugal geschlossen hatte, durften die UN nur unbewaffnetes Personal nach Ost-Timor entsenden, um die Abstimmung vorzubereiten und durchzuführen. Für die Sicherheit und die Entwaffnung der rivalisierenden Parteien sind dem Vertragswerk zufolge allein die indonesische Polizei und das Militär zuständig.

Von Beginn an war klar, daß mit dieser Regelung der Bock zum Gärtner gemacht wurde: Denn nicht nur die Milizen, sondern vor allem die indonesischen Sicherheitskräfte sind für die seit 24 Jahren andauernde Gewaltherrschaft in Ost-Timor verantwortlich. Es ist vielfach dokumentiert, daß die pro-indonesischen Milizen von den indonesischen Streitkräften rekrutiert, ausgebildet, ausgerüstet und bezahlt wurden. Der Verpflichtung, die Milizen zu entwaffnen, wurde daher niemals ernsthaft nachgegangen. Täglich sind im Fernsehen Bilder zu sehen, die beweisen, daß Militär und Polizei dem Treiben der Milizen tatenlos zusehen. Nur gelegentlich greifen die Sicherheitskräfte ein - beispielsweise bei der Verfolgung eines unbewaffneten Anhängers der Unabhängigkeit, der vor laufenden Fernsehkameras von der Polizei erschossen wurde.

Das Militär - nach wie vor die bedeutendste politische Macht in Indonesien - hat in Ost-Timor viel zu verlieren. Militärs kontrollieren nicht nur einen Großteil der lokalen Wirtschaft, sondern Ost-Timor hat vor allem symbolisch einen hohen Stellenwert. Über Jahre hinweg war die Karriere von Offizieren eng an einen Einsatz in dieser Krisenregion und dem zweiten Brennpunkt militärischer Gewalt, der Provinz Aceh im Norden Sumatras, gekoppelt.

Die Existenz dieser Unruhegebiete ist zudem eine wichtige Voraussetzung für die Selbstbereicherung der Militärs, da das korrupte Staatswesen Indonesiens schier unbegrenzte operative Mittel dafür zur Verfügung stellt, die bislang in keinem Haushaltsplan veröffentlicht werden müssen. Nationalistische Politiker befürchten zudem einen Domino-Effekt, falls Ost-Timor unabhängig werden sollte. Aceh, West-Papua, die Molukken und andere Unruheherde könnten sich von dem Erfolg ermutigt sehen, die Loslösung von Jakarta zu forcieren. Viele Nationalisten sind daher nur allzu bereit, sich auf die Argumente der Militärs einzulassen. Die unverblümte - inzwischen verwirklichte - Drohung der Milizen, Ost-Timor nach dem Referendum in ein Flammenmeer zu verwandeln, dient somit auch als Mahnung an andere abtrünnige Provinzen: "Seht, was der Preis für die Unabhängigkeit ist!"

Der simulierte Bürgerkrieg wird nun auch dazu benutzt, den Einmarsch neuer Truppen zu rechtfertigen - möglicherweise bis hin zu einer Verlängerung des Besatzungsstatus. Diese Woche wurden bereits zwei neue indonesische Bataillone nach Ost-Timor verlegt, darunter auch Kostrad-Elitetruppen. Die zynische Begründung lautete, man wolle dem internationalen Ruf nach mehr Sicherheit nachkommen. Die Militär- und Polizeistärke in Ost-Timor beläuft sich zur Zeit auf rund 25 000 Mann - gegenüber einigen Hundert Milizionären.

All diese Fakten sind seit langem bekannt und werden außerhalb Indonesiens kaum noch ernsthaft bezweifelt. Nach der Eskalation in Ost-Timor und den Vorkehrungen der UN-Mission für eine eventuell notwendig werdende Evakuierung der ausländischen Kräfte, forderten in den letzten Tagen Xanana Gusmao, die katholische Kirche Ost-Timors, die UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson, der Premierminister Portugals, Antonio Guterres, die vor Ort befindlichen Wahlbeobachter und viele andere die Entsendung einer "internationalen Friedenstruppe". Guterres äußerte die Ansicht, eine solche Truppe könnte durchaus auch indonesische Einheiten umfassen. Man sei an Kooperation, nicht an Konfrontation interessiert.

In einer eilig einberufenen Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates wurde ähnlich argumentiert: Man verurteile die Welle der Gewalt in Ost-Timor und beschloß, eine diplomatische Delegation in die indonesische Hauptstadt Jakarta zu entsenden. Dort soll mit der indonesischen Staatsführung beraten werden, wie die Gewalt in Ost-Timor zu beenden sei. Eine UN-Sprecherin äußerte, alles Personal, das nicht unbedingt gebraucht werde, werde ausgeflogen. Bis zu 150 Mitarbeiter sollen so in Sicherheit gebracht werden. Die EU verabschiedete in Helsinki eine Resolution, in der sie ihrer Sorge um die Lage in Osttimor Ausdruck verlieh und die indonesische Regierung an ihre Verantwortung erinnerte. Auch hier will man eine Konfrontation mit Jakarta vermeiden.

Mit finanziellen Konsequenzen drohten US-Präsident William Clinton sowie die deutsche Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Obwohl sich alle darüber bewußt sind, daß eine Verbesserung der Lage in Ost-Timor nur durch Druck auf Indonesien zu erreichen ist, scheint es sich niemand mit diesem erkrankten Tiger verderben zu wollen. Zu klein und unbedeutend ist das abgelegene Ost-Timor, zu groß sind die Interessen an guten Beziehungen zu der strategisch wichtigen, 210 Millionen Einwohner zählenden Regionalmacht Indonesien.

Die Milizen auf Ost-Timor waren offensichtlich gut beraten: Einstweilen ist die Welt damit zufrieden, daß es eine freie Abstimmung nach demokratischen Grundsätzen gegeben hat. Ob das Ergebnis der Abstimmung auch zur Umsetzung gelangt, ist zweitrangig. In wenigen Tagen werden die letzten ausländischen Beobachter, Kamerateams und möglicherweise auch die Unamet-Angehörigen Ost-Timor verlassen haben. Andere Konflikte werden dann wieder die Schlagzeilen der Weltpresse beherrschen, und die Repression in Ost-Timor kann weitergehen.