Männer bevorzugt

Vom Rentenvorschlag der IG Metall profitieren vor allem gut bezahlte männliche Facharbeiter - und Betriebe, die künftig Abfindungen einsparen können.

Immer, bevor die deutsche Innenpolitik völlig ins Koma fällt, kommt irgendjemand mit einem neuen Rentenreformmodell vorbei - und alle sind wieder wach. Auf ihrem Gewerkschaftstag packte die IG Metall einen solchen Vorschlag aus, und alle waren spontan dagegen: Arbeitgeber, Regierung, Opposition, Rentenversicherungsträger und Grüne. Ein Vorschlag, der so viel Empörung auslöst, kann nicht ganz schlecht sein, mochten einige denken.

Nach einer Woche hatte sich die einhellige Ablehnung allerdings weitgehend verflüchtigt. Die Rentenversicherungsträger, Arbeitsminister Walter Riester, Bundeskanzler Gerhard Schröder und auch Vertreter der Arbeitgeber-Seite äußerten inzwischen so etwas wie Teilzustimmung - immer unter dem Vorbehalt, dass sie das nichts kostet. 77 Prozent der Bevölkerung sollen den Vorschlag unterstützen. Einzig der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Verband des deutschen Handwerks und die Grünen sind noch dagegen. Auch diese neue Koalition kann Anlass zu interessanten Spekulationen über gemeinsame sozialpolitische Interessen geben.

Der Vorschlag der IG Metall wird meistens unter dem Schlagwort "Rente mit 60" diskutiert. Das Kernstück dieses Rentenmodells sind die so genannten Tariffonds. In einen solchen Fonds, der tarifweit organisiert wird, sollen monatlich Gelder eingezahlt und dort angespart werden. Die Summe bemisst sich nach dem Lohn der jeweils unter dem Tarifvertrag Beschäftigten, und die Höhe wird im Rahmen der Tarifverträge festgelegt. Im Gespräch sind ungefähr ein halbes bis ein Prozent des Lohnes. Die Tariffonds werden, weil sie von den Tarifverträgen abhängen, so gut sein, wie die Gewerkschaften eines Tarifbereichs stark und verhandlungsmächtig und die Arbeitgeber zahlungsfähig und zahlungswillig sind. Damit ist bereits vorauszusehen, dass der Tariffonds der Metallbranche besser dastehen wird als derjenige der Bekleidungsindustrie.

Wenn nun jemand mit 60 in Rente gehen möchte oder ihm das von seinem Betrieb nahegelegt wird, dann soll aus dem Tariffonds eine einmalige Summe von 40 000 bis 102 000 Mark an die gesetzliche Rentenversicherung überwiesen werden. Durch diese Summe wird die Kürzung der Renten ausgeglichen, die alle die erfahren, die sich vorzeitig verrenten lassen. Allerdings soll das Geld nur für die Frührentner gezahlt werden, die mindestens 35 Jahre in einem sozialversicherten Arbeitsverhältnis gearbeitet haben. Diese ununterbrochene Beschäftigung können bekanntermaßen nur wenige Frauen in Westdeutschland aufweisen und auch nicht alle Männer.

Weil in den großen Gewerkschaften jener Branchen höherer Lohngruppen durchweg überwiegend Männer beschäftigt sind, werden Frauen weniger von den Tariffonds profitieren als Männer. Die Mitglieder der IG Metall handeln demnach mit ihrem Vorschlag nicht uneigennützig. Sie zahlen nach dem neuen Vorschlag einen Teil der Lohnnebenkosten in eine Kasse ein, die nur ihnen selbst zugute kommt. Dies ist in der gesetzlichen Rente bislang nicht im gleichen Ausmaß der Fall. Dort gibt es einen Umverteilungseffekt zu Gunsten von Frauen, die länger leben, früher in Rente gehen und oft eine Ausstockung ihrer Kleinstrenten erfahren.

Wenn ein Betrieb heute Beschäftigte in die Berentung entlassen will, so können die am längsten Beschäftigten, also die Älteren, am schwersten entlassen werden. In der Praxis wird daher eine Abfindung gezahlt, um die Beschäftigten zur freiwilligen Vertragsaufhebung zu bewegen. Die Kosten für die Arbeitgeber entstehen also auch ohne Tariffonds. Allerdings gewönnen die Beschäftigten durch die Tariffonds mehr Sicherheit, weil heute über die Höhe der Abfindung das Unternehmen allein entscheidet.

Die IG Metall prognostiziert im Zusammenhang mit ihrem Vorschlag, dass künftig jeder zweite auf diese Weise frei gewordene Arbeitsplatz neu besetzt würde. In der Vergangenheit wurde allerdings nur einer von sieben durch Frühverrentung frei gewordenen Arbeitsplätze für Neueinstellungen benutzt.

Offensichtlich will die Gewerkschaft mit ihrem Vorschlag der Regierung einen Teil der Kompetenz in der Rentenpolitik abnehmen. Indem ein Teil der Renten durch Tariffonds finanziert würden, deren Ausgestaltung von ihr mit den Arbeitgebern aushandelt werden, könnte sie Einfluss auf die Höhe der Rente gewinnen. Bisher ist dies für die Gewerkschaften nur bei Betriebsrenten möglich - diese unterliegen aber nicht dem Tarifvertrag, sondern den Verhandlungen in einzelnen Unternehmen.

Durch die Tariffonds gewönnen die Gewerkschaften an Macht. Vielleicht haben sich Riester und Schröder, mit gewisser zeitlicher Verzögerung, mit diesem Gedanken angefreundet. Warum eigentlich die undankbare Rentenpolitik selbst machen, wenn ein anderer die Kohlen aus dem Feuer holen will?

Bismarck kam vor über hundert Jahren auf die Idee, dass der Staat Sympathien bei der Bevölkerung gewinnen würde, wenn er sich sozialpolitisch engagiert, und schuf die Unfall- und Rentenversicherung. Er meinte schon damals, die Arbeiterklasse sei für diese Wohltat nicht ausreichend dankbar. Vielleicht zieht Schröder nun die Konsequenz aus dieser Erkenntnis.