Der Hauptfeind und der Held

Zu lau, zu feige, zu kompromisslerisch - der Bürger als Inbegriff der verhassten Moderne ist eine Hassfigur der Rechten. Günter Meuter und Henrique Ricardo Otten verfolgen die Geschichte des antibürgerlichen Affekts im 20. Jahrhundert.

Heutige Aktivisten der extremen Rechten verweisen, ihren Traditionen folgend, übereinstimmend auf eine Reihe von für sie grundlegenden Ideologien: die der Nation, der Rasse und des Antikapitalismus. Und kein Kader der heutigen NPD, der nicht den wesentlichen Unterschied zur NPD der sechziger Jahre durch die Kritik beschreiben würde, die damalige Partei sei durch und durch »bürgerlich« gewesen.

In der Tat hat sich hier im Habitus der extremen Rechten ein Wandel gegenüber ihren Vorläufern in der Bundesrepublik vollzogen. Verstanden sich diese in einer Mischung aus NS-Nostalgie und Anknüpfung an die Deutschnationalen der Weimarer Republik weitgehend als eine Art Staatspartei, die das »wahre« Deutschland verkörpere, und das System vervollkommnen wolle, so begreifen sich wachsende Teile der heutigen extremen Rechten zunehmend politisch wie auch kulturell als systemalternativ. Ihr Hauptfeind ist folgerichtig der idealtypische Repräsentant des liberalen Systems: die Gestalt des Bürgers.

Der Bürger, das ist der Bourgeois, der fette, behäbige und satte Krämer, der nur auf seinen Gewinn bedacht ist. Der Bürger, das ist der feige Spießbürger, der nach Veränderung schreit, aber jegliches persönliche Risiko scheut. Der Bürger kämpft nicht für seine Überzeugung; er diskutiert, verhandelt, schließt Kompromisse. Er ist die Verkörperung des Lauen und der Halbheiten. Der Bürger ist das schlimmste Produkt der Moderne, der mit dem Liberalismus die politischen und mit dem Kapitalismus die wirtschaftlichen Folgen der Französischen Revolution auf sich vereint. Als Repräsentant der Moderne ist er stets Händler. Das Idealbild des antibürgerlichen Gegenentwurfs ist der - natürlich einsame - Held.

»Händler und Helden«, dieses von Werner Sombart 1914 als Buchtitel genutzte Gegensatzpaar setzte den bürgerlichen »Ideen von 1789«, die stets als französische Ideen begriffen wurden, die deutschen »Ideen von 1914« entgegen. Die existenzielle Entscheidung im kriegerischen Kampf machte bürgerliche Diskussion obsolet. Sie räumte Schicksal und Tragik endlich wieder den gebührenden Rang ein. Das Fronterlebnis »in Stahlgewittern« bot ein Gemeinschaftserlebnis, nicht mehr die als künstlich-mechanisch aufgefasste und somit abgelehnte bürgerliche Gesellschaft. Die Dekadenz hatte hier keinerlei Daseinsberechtigung mehr. Die Fähigkeit zum Überleben in direkter Konfrontation mit dem Feind, trete er als Masse oder als Technik auf - das war die heroische Virilität.

Die Spuren dieses antibürgerlichen Denkens im 20. Jahrhundert verfolgen Günter Meuter und Henrique Ricardo Otten - zwei Schüler Kurt Lenks, die mit diesem gemeinsam den Band »Vordenker der Neuen Rechten« veröffentlicht haben - in dem von ihnen herausgegebenen Band »Der Aufstand gegen den Bürger« zurück. Nicht die Antibürgerlichkeit der anarchistischen Bohème eines Erich Mühsam steht im Mittelpunkt der hier vorgelegten Arbeiten, sondern gerade die Annäherung von rechts, die sich aus einer Ablehnung der Moderne speist.

Zentral wird somit das Ideen- und Haltungsbündel der Konservativen Revolution, die sich eben auch im Gegensatz zur Bürgerlichkeit des traditionellen Konservatismus sah, bei dem das »Haben« längst das »Sein« verdrängt habe. Vehement insistierte dagegen dieser neue Konservatismus auf den Primat des Existenziellen. Die dem Bürger entsprechende Ideologie ist der Liberalismus. Und dieser hat als Hauptfeind - darin ist sich der vehemente Kritiker Herbert Marcuse mit dem vehementen Anhänger Armin Mohler einig - eine größere Bedeutung als die lediglich sekundären, ihm zwillingsgleich verhafteten Folgeerscheinungen Sozialismus und Kommunismus.

Fernab von jeglicher Agenten-Theorie, die das Denken der verschiedenen Familien der Rechten stets nur als Ausdruck der Interessen »des Kapitals« verstandt, nehmen die Autoren des Sammelbandes den antibürgerlichen Impetus der behandelten Autoren zunächst einmal ernst. Und sie stoßen folgerichtig auf diverse Überschneidungen mit der politischen Linken. So schildert Winfried Gebhardt in seinem auf Ferdinand Tönnies zurückgehenden Beitrag »'Warme Gemeinschaft' und 'kalte Gesellschaft'. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur« eine Geschichte der Nachwendeperiode im Gefolge von 1989: Der Streit zwischen west- und ostdeutschen Angestellten um die angemessene Raumtemperatur gipfelt im Vorwurf (West) der Unfähigkeit, in ökonomischen Kategorien denken zu können, einer Sucht nach Geborgenheit verhaftet zu sein, und im Vorwurf (Ost), die westlichen Kollegen zeigten keine echten Gefühle und hätten vergessen, was Gemeinschaft bedeute. Wahrlich: eine deutsche Geschichte, die ihre Quintessenz in der beklagten »Kälte« der bürgerlichen Gesellschaft findet.

Meuter/Otten zitieren jenseits dieser Anekdote einen gegen Karl Kautsky gerichteten Satz Leo Trotzkis: »Im Bewußtsein von Relativitäten findet man nicht den Mut, Gewalt anzuwenden und Blut zu vergießen.« Kautskys Bezug auf die bürgerliche Demokratie, so der Vorwurf, verhindere gerade die Herbeiführung der notwendigen, endgültigen Entscheidung. Kein Wunder also, dass der Dezisionist par excellence Carl Schmitt diesem Urteil lebhaft zustimmen konnte. Meuter/Otten bezweifeln das von Francis Fukuyama verkündete »Ende der Geschichte« und befürchten angesichts von Globalisierung und neuen Verwerfungen in kulturellen, ethnischen und religiösen Frontstellungen ein Wiederaufleben der untersuchten Motive antibürgerlichen Denkens im frühen 20. Jahrhundert.

So schlägt der vorliegende Band Bögen: vom Anfang des Jahrhunderts zu seinem Ende, von Links nach Rechts, von der Literatur über Philophie und Wissenschaft bis zur Politik. Paradigmatisch für dieses Vorgehen ist Michael Reiter, der in seinem Beitrag »Philosophisches Unbehagen in der modernen Kultur« so unterschiedliche Autoren wie Carl Schmitt und den Marxisten Georg Lukács, den ästhetizistischen Reaktionär Botho Strauß und den amerikanischen Kommunitaristen Amitai Etzioni in Beziehung zueinander setzt, wobei Reiter im Begriffsbild des »Opfers« das verbindende Elemente zwischen den Diskursen der jeweiligen Autoren zieht. Das Opfer wiederum verweist auf die Tragik, ein weiteres antibürgerlich verstandenes kulturkritisches Deutungsmuster, das durch Ludger Heidbrink behandelt wird.

Der geforderte, die krisis überwindende Dezisionismus beinhaltet notwendig, dies stellt Ulrich Bielefeld in seinem Aufsatz über den Schriftsteller aus dem Freikorps-Milieu Ernst von Salomon, »Die Nation als Geheimnis«, dar, einen Aktionismus, der die Opferung des Selbst um des existenziellen Seins willen akzeptiert und einschließt. Der »Krämergeist« und die »Sattheit« des Bürgertums finden hier keinen Platz, können nur mit Verachtung betrachtet werden. Helden sind gefordert, nicht Händler.

Das Begreifen des Bolschewismus als antibürgerliche Bewegung machte es für den auch in der Nachkriegszeit viel gelesenen Salomon nebenbei möglich, sich als »zwischen Ost und West« zu definieren, sich aus nationalistischen Erwägungen gegen die Remilitarisierung zu stellen und Ähnlichkeiten des Kommunismus mit dem vergötterten Leitbild Preußen auszumachen. Er glaube, so erklärte er 1967 im Interview mit der nationalrevolutionären Zeitschrift Neue Politik, »daß zumindest in dem, was zum Beispiel der Kommunismus von seinen Anhängern und in seiner Ordnung an Tugenden verlangt, sehr viel ist, was auch die Tugenden Preußens betrifft. Solidarität, Disziplin, Organisation, Denken für den Staat, der Staat als Maßstab des Handelns.«

Die in dem Band vorgelegten Studien können als Ergänzungen und Erläuterungen der Arbeiten Zeev Sternhells gelesen werden. Wie bei diesem wird deutlich, dass der Faschismus nicht ohne die ihm ursprüngliche kulturelle Rebellion zu erfassen ist, dass er sich als Alternativentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft verstand. Durch die Einbeziehung auch linker Kritik der Bürgerlichkeit wiederum werden auch die möglichen Übergänge deutbar. Wohl auch die allgemeine Krise der wohlfahrtsstaatlich-ökonomischen Integrationsmechanismen dürfte dafür sorgen, dass das Leitbild der Anti-Bürgerlichkeit auf der extremen Rechten zunehmend aufgegriffen wird.

Günter Meuter/Henrique Ricardo Otten (Hrsg.): Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Königshausen & Neumann, Würzburg 1999, 311 S., DM 29,90