Michalczewski vs. Rocchigiani

Der wo kein Weichei ist

Durch seine Aufgabe gegen Dariusz Michalczewski hat der Berliner Profiboxer Graciano Rocchigiani endgültig BRD-Geschichte geschrieben.

Als Graciano Rocchigiani am Samstagabend nach der neunten Runde in die Ecke von Dariusz Michalczewski ging und die Arme nach oben nahm, um die Aufgabe zu signalisieren, da zeigte der Berliner Profiboxer noch in der Niederlage Größe. Ihm war es an diesem Abend in der »Preussag-Arena« auf dem Expo-Gelände in Hannover zwar nicht gelungen, den WBO-Halbschwergewichts-Weltmeister Michalczewski zu schlagen, denn der hatte ihm nicht nur einen entscheidenden Leberhaken versetzt, sondern auch besser geboxt, lag vorne und war von Runde zu Runde schlaghärter geworden. Aber niemand kam an diesem Abend auf die Idee, Rocchigiani ein »Weichei« zu nennen, wie es beinah alle Boxinteressierten 14 Tage zuvor bei Witali Klitschko getan hatten.

Der Ukrainer, Schwergewichts-Weltmeister der WBO, hatte in Berlin seinen Titel durch Aufgabe an Chris Byrd aus den USA verloren, weil ihn die Schulter schmerzte, und sein Manager, sein Bruder, sein Trainer und sein Arzt waren nicht müde geworden zu erzählen, dass man so ja auf keinen Fall weiter boxen könnte - mit nur einem Bein Fußballspielen gehe ja auch nicht. Witali Klitschko, der 2,02-Meter-Mann aus der Ukraine, der bis zu seiner Aufgabe einen Rekord von 27 Kämpfen und 27 K.o.s hielt, gilt seither als Schwächling, als einer, der kein Kämpferherz hat, beinah ein Warmduscher oder Mittelstreifenfahrer oder Festnetztelefonierer.

Rocchigiani ist all das nicht. Rocchigiani ist ein Phänomen, an das sich so recht keiner rantraut, quasi ein Zlatko des Berufsboxens. »Ich glaube, ich biete ehrlichen Sport«, so versucht er, auf Nachfrage, selbst seine Popularität zu erklären, und ahnt, dass das nicht alles ist. Welcher erfolgreiche Boxer kämpfte je unehrlich im Ring? Wie ginge so etwas überhaupt? »Ich glaube«, führt er seine Analyse, warum er populär ist, weiter, »weil ich meine Meinung sage, auch gegen Leute, die vielleicht im Boxgeschäft mehr zu sagen haben als ich.«

Graciano Rocchigiani ist seit 17 Jahren Berufsboxer. Einen anderen Beruf hat er nicht gelernt, eine Gebäudereinigerlehre brach er ab. »Ich boxe wegen der Kohle, wegen was denn sonst?« sagt er, und kommt damit auf dieselbe Antwort wie die Mehrzahl der Arbeitenden, wenn sie nach einem Grund suchen, warum sie nach dem Weckerklingeln aufstehen. Boxen ist für ihn nicht der Traum vom Leben, nicht das Sinnbild allen gesellschaftlichen Seins. Zumindest nicht für einen wie Rocchigiani, denn für den ist Boxen etwas Alternativloses. Es ist für ihn die einzige Chance, ein sorgenfreieres Leben zu führen denn als Gebäudereiniger.

Noch radikaler hat dies nur ein anderer formuliert, der - wie Rocky und auch Zlatko - den Typus des proletarischen Helden verkörpert: Der Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner mit seiner ewigen Weisheit: »Tot sein ist besser als wie ohne Geld«. Witali Klitschko aber, das Weichei, ist promovierter Sportwissenschaftler, sein Vater ist Oberst der ukrainischen Armee, er spielt gerne Gitarre und beschäftigt sich mit klassischer Literatur. All diese Kleinigkeiten machen deutlich: Das ist ein anderer Boxertypus. Weder Witali noch sein Bruder Wladimir brauchen das Boxen, die werden auch so Professor an der Universität Kiew oder PR-Berater in Hamburg oder irgendwas anderes Anerkanntes irgendwo sonst.

Graciano Rocchigiani ruft niemand nach, er sei ein Weichei. Der wurde vom Leben hart gemacht. Witali Klitschko (und mit ihm außer seinem Bruder noch die ganze Bagage der Ost-Amateure mit Profivertrag: die Maskes und Mays und Schulzens und Monses) soll erst mal beweisen, dass er wenigstens ansatzweise so hart werden kann. Graciano Rocchigiani hat sich in den USA bei seinem Freund, Trainer und Manager Emanuel Steward vorbereitet, im legendären »Kronk-Gym« nur durch einen Vorhang von Schwergewichtsweltmeister Lennox Lewis getrennt. Rocchigiani ist gegenwärtig der einzige deutsche Profi, der wenigstens ein bisschen das verkörpert, was das Boxen zum Teil des American Dream hat werden lassen, zu jener Erfahrung, die jede gesellschaftlich marginalisierte Gruppe hat machen müssen, um etwas zu werden: erst die Iren, dann die Juden, die Italiener, die Schwarzen und neuerdings die Latinos.

Graciano Rocchigiani repräsentiert bis ins kleinste und kitschigste Detail die Immigranten, die nach Deutschland kamen und hier assimiliert wurden. Der Vater ist ein sardischer Eisenbieger, geboren wurde Graciano in Duisburg-Rheinhausen, neun Monate nach der Geburt seines Bruders Ralf, aufgewachsen sind die beiden auf Berliner Hinterhöfen. Sporadisch bekam Graciano Probleme mit der Polizei, etwa, wenn er seinem Fahrlehrer auf den Kopf schlug, weil er glaubte, die Prüfung nicht bestanden zu haben, wenn er eine Taxieinrichtung auseinander nahm, weil der Fahrer seine Mutter beleidigt hatte, wenn er einem Hausmeister die Nase brach, weil der ihn aufforderte, seinen Hund anzuleinen, oder wenn er zusammen mit seinem Bruder auf dem Berliner Kudamm sieben Polizisten zusammenschlug. Einmal nahm man ihn gar wegen Menschenhandels, Zuhälterei und Erpressung fest, er saß damals eine Weile in U-Haft, wurde aber wegen erwiesener Unschuld freigesprochen.

So ganz grundlos nennt man Graciano Rocchigiani also nicht »Rocky«. Sein Habitus erinnert an den Aufsteiger, den Sylvester Stallone als Rocky Balboa in den gleichnamigen Filmen verkörperte. Dariusz Michalczewski, der Sieger vom Samstag, verkörpert diesen Typus nicht. Ein Held ist er in der kleinen und sehr marginalisierten polnischen Community in Deutschland. Aber Michalczewski ist keiner, der für die Arbeitsmigranten steht. Er setzte sich einst als polnischer Nationalstaffelboxer in den Westen ab, jobbte eine Weile und wurde bald Bundesligaboxer, nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an und wurde Profi. Als Profi war er nicht nur gut genug, Weltmeister der WBO zu werden, sondern auch - und das zählt wahrscheinlich mehr -, dass Henry Maske Angst vor ihm hatte. Gegen Michalczewski hat der Gentleman nie gekämpft, und als Maske endlich mal verloren hatte - gegen Virgil Hill in seinem letzten Kampf 1996 -, da kam Michalczewski sofort und schlug Virgil Hill.

Sportlich kann man gegen Michalczewski, dessen Kampfname »Tiger«, anders als beispielsweise »Rocky« oder »Gentleman«, nun wirklich albern ist, nichts vortragen. Aber er steht für nichts so richtig. Graciano Rocchigiani hingegen steht für die ersten Arbeitsmigranten in der westdeutschen Republik. Dass sie trotz italienisch, spanisch oder portugiesisch klingenden Namen mittlerweile als Deutsche wahrgenommen werden, haben sie in jedem Fall mehr Graciano Rocchigiani zu verdanken als irgendeinem rot-grünen Gesetz. Dass Graciano Rocchigiani bei seinen Versuchen, in Deutschland die Nummer eins im Halbschwergewicht zu werden, zweimal an Henry Maske und nun auch zweimal an Dariusz Michalczewski scheiterte und dass er beim ersten Maske- und beim ersten Michalczewski-Kampf jeweils beschissen wurde, passt da auch ins Bild.