Interview mit André Brie

»Gysi ist Kult«.

Ein Gespräch mit André Brie, Ex-Wahlkampfleiter und Europa-Parlamentarier der PDS

Gregor Gysi und Lothar Bisky haben vor dem Parteitag in Münster gefordert, dass die Fronten innerhalb der PDS endlich geklärt werden müssten. Ein »Ende der Formelkompromisse« sollte her. Hat Münster diese Klärung nicht gebracht? Immerhin haben zwei Drittel der Delegierten gegen den Vorstandsantrag zu Uno-Einsätzen gestimmt.

Wenn man das so sehen will - aus meiner Sicht dann aber sehr ironisch -, hat es eine bestimmte Klärung natürlich schon gegeben. Aber über die Grundsatzfragen der PDS, die ganze Perspektive, ist überhaupt noch nicht entschieden. Die Frage ist doch, ob Münster ein Ausrutscher war, oder ob die Entwicklung in der PDS insgesamt in diese Richtung gehen wird. Allerdings wäre es auch dann wünschenswert, diese Klärung zu bekommen. Es kann auf jeden Fall nicht bei dem Unentschieden aus der Vergangenheit bleiben.

Der Vorstand - und auch Sie - sind in Ihrem Bestreben, das bisherige Nein der PDS zu Militär-Einsätzen aufzuweichen, gescheitert. Ist der Punkt für Sie damit abgehakt, oder wird es einen neuen Versuch geben, das Programm hin zu Uno-Einsätzen zu ändern?

Der Punkt ist abgehakt. Ich glaube aber auch nicht, dass irgendjemand dieses Nein zu Militäreinsätzen wirklich aufweichen wollte. Das ist Konsens in der PDS. Doch im Unterschied zur Mehrheit der Delegierten stelle ich mir schon die Frage, ob unter den gegebenen Umständen das Ziel wirklich alles ist und die Bewegung nichts - und ob man zur Zeit nicht die Uno verteidigen muss gegen die Nato.

Aber von einer demokratisierten Uno zu sprechen, wie im Vorstandsantrag, ist doch bestenfalls naiv. Wer sollte die denn durchsetzen - vielleicht die USA?

Natürlich nicht. Aber dass das so ist, wird sich wohl auch in den nächsten hundert Jahren nicht ändern. Wir leben nun einmal in keiner hierarchie- und machtfreien Welt. Dennoch stellt die Uno noch ein Hindernis dar gegen die Allmacht und Alleinherrschaft der westlichen Staaten. Wenn man eine so tiefe Defensive der linken und antimilitaristischen Kräfte hat, wird man auch die erbärmlichsten Bündnispartner sammeln müssen.

Neben dem Streit um die Uno-Einsätze geht es in der Programmdebatte ja auch um die künftige Haltung der PDS zum bestehenden System. Warum wollen Sie Abschied nehmen von der jetzigen Kapitalismus-Kritik?

Ich will, dass wir eine Kapitalismus-Kritik entwickeln, die politisch etwas bewirken kann. Heute schon. Die Kapitalismus-Kritik der Kommunistischen Plattform etwa speist sich doch ausschließlich aus der Verteidigung der DDR, aus der Verteidigung der Vergangenheit. Aber sie trägt nichts dazu bei, wie eine Kritik am Kapitalismus heute aussehen könnte. Meiner Meinung nach bleibt es unerlässlich, die Macht- und Eigentumsverhältnisse in dieser Gesellschaft zu ändern. Die Frage ist nur, wie. Durch die Verfügung über Eigentum? Über Demokratisierung oder doch nur über Verstaatlichungen? Ich halte den letzten Weg für so gründlich gescheitert, dass der Hauptweg einer modernen Vergesellschaftung darin nicht liegen kann - dann schon eher in Demokratisierungsprozessen.

Systemüberwindend ist das nicht gerade ...

Aber natürlich. Schließlich muss man im Hier und Jetzt anfangen. Friedrich Engels hat den Zehn-Stunden-Arbeitstag 1890 doch auch als sozialistisches Element bezeichnet. Wenn man nicht in kleinen Schritten denkt, kann man wirklich nur warten, bis irgendwann die große Krise kommt - in meinen Augen eine pessimistische Hoffnung

Nun ist es ja Gysi, dessen Sprachduktus zumindest an gewisse staatssozialistische Methoden anknüpft: Gegen die »linksdogmatischen Kräfte« müsse »härter durchgegriffen«, auch vor »symbolischen Aktionen« dürfe nicht länger zurückgeschreckt werden. Wird in der PDS jetzt gesäubert?

Es darf nicht gesäubert werden. Was wir brauchen, sind inhaltliche Auseinandersetzungen. Es kann ja nicht sein, dass Gysi das Aushängeschild für Leute ist, die ihn und andere zum Beispiel mit dem Faschismus-Vorwurf bedenken. Und umgekehrt sind auch die, die sich als Kommunisten bezeichen, gut beraten, ihr eigenes Profil deutlich zu machen. Wenn Minderheitenpositionen weiter geschützt sind, wird sich zwangsläufig eine organisatorische Klärung herstellen. Jeder andere Weg wäre Rückkehr zur SED.

Parteiausschluss-Verfahren wird es also nicht geben?

Wir können natürlich nicht dulden, dass unser Statut und Programm völlig verletzt werden. Es kann ja nicht sein, dass Nationalsozialisten in die PDS eintreten. Dort, wo es gravierende Verletzungen gibt, wird man den Mut zur Auseinandersetzungen haben müssen. Seit März 1990 ist das auch gut ohne Ausschluss-Verfahren gelungen.

Gysi hat seinen Abschied damit begründet, dass eine bestimmte historische Phase abgeschlossen sei - die Akzeptanz der PDS in der Bundesrepublik Deutschland. Sie sehen die Partei zurückgeworfen in die Zeit um 1989/90.

Gysi irrt sich. Wir waren auf dem Weg dorthin, aber Akzeptanz allein ist kein Ziel, das wir ein für allemal erreichen könnten - und schon gar nicht ohne ein antikapitalistisches und sozialistisches Profil ausgeprägt zu haben.

Sie haben schon vor dem Parteitag gesagt, dass Ihnen eine PDS ohne Gysi Angst macht. Wer kann ihn ersetzen?

Ich glaube, dass Gysi nicht ersetzbar ist. Der Mann ist bei vielen Ostdeutschen einfach Kult, gerade auch bei Jugendlichen. Selbst wenn das einer Zeitung wie Jungle World suspekt erscheinen mag, ist das ein unglaubliches Kapital. Er ist der einzige, der die Menschen - nicht zuletzt im Westen - erreichen kann. Ich war lange genug Wahlkampfleiter der PDS, um zu wissen, dass er uns bei jeder Wahl ein bis zwei Prozente gebracht hat.

In Münster wurde nicht nur Gysi, sondern der gesamte Vorstand abgestraft.

Deshalb sehe ich den Parteitag ja auch als Chance, endlich zu verstehen, was in der PDS los ist - und das Ruder herumzureißen.

Wohin denn? In der Regierung von Mecklenburg-Vorpommern betätigt sich die Partei vor allem als Steigbügelhalterin für die SPD.

Die PDS muss widerstandsfähiger werden gegenüber der SPD - wenn auch auf Basis der Koalition. Aber ich gebe zu: Selbst wenn ich immer gegen das Gerede von den Sachzwängen und der Alternativlosigkeit gekämpft habe, ahne ich, dass dieser Kelch in Mecklenburg-Vorpommern auch an der PDS nicht völlig vorbeigehen wird.

Wäre da ein Wechsel in die SPD nicht attraktiver?

Nein. Das einzige realistische linke Projekt in Deutschland ist und bleibt die PDS. Deswegen stellt sich für mich die Frage eines Wechsels auch nicht.

Vielleicht deshalb, weil sich die PDS ohnehin immer mehr der SPD annähert?

Auf gar keinen Fall. Die PDS würde dabei verloren gehen - auch hinsichtlich der Vertretung ostdeutscher Interessen. Politisch erfolgreich ist sie nur wirkungsvoll von links, in deutlicher Abgrenzung zur SPD. Deutschland braucht neben einer sozialdemokratischen auch eine sozialistische Partei, die in die Gesellschaft eingreifen kann ...

... und gemeinsam mit der SPD in Berlin regieren?

Die Frage einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene stellt sich derzeit überhaupt nicht. Wer realistisch analysieren kann, weiß, wo die SPD und die Grünen stehen - deshalb wird es auch 2002 keine politische Substanz für eine solche Koalition geben. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist, um die Hegemonie-Fähigkeit eines Mitte-Links-Blocks zu kämpfen. In diesem Block müsste die PDS die entschieden linke Seite bilden. Eine andere Perspektive hat sie nicht. Sie geht zu Grunde, wenn sie sich auf ihren ostdeutschen Charakter reduzierte.