Luis Bassegio

»Die Basis hat Priorität«

Nur knapp hat die Arbeiterpartei (PT) in Brasilien in den letzten Jahren den Wahlsieg verpasst. Seitdem hat sich die Linke im Parlament und in den Regierungen einiger Bundesstaaten etabliert. Doch mit den parlamentarischen Erfolgen hat auch die Dynamik der sozialen Bewegungen verloren. Alternativen zum neoliberalen Dogma scheinen heute kaum noch denkbar zu sein. Die linken Parteien seien zu angepasst, kritisiert daher seit einiger Zeit die Consulta Popular (etwa: Befragung der Basis), die u.a. der Landlosenbewegung MST und dem linken Flügel der katholischen Kirche nahe steht. Mit Erfolg: Der Consulta Popular gelingt es nicht nur, wieder Zehntausende zu mobilisieren, sondern auch eine breite Debatte über Alternativen in der Politik zu initiieren. Luis Bassegio ist Leiter der Pastoral-Kommission der Immigration in S‹o Paulo, einer der Hauptorganisatoren der Consulta Popular und Mitautor des Buches »A op ç ‹o brasileira« (»Der brasilianische Weg«). Zur Zeit befindet er sich, u.a. auf Einladung des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), auf einer Vortragsreise durch Deutschland und die Schweiz.

Sie fordern einen »brasilianischen Weg« aus der sozialen und ökonomischen Krise. Warum diese Fixierung auf eine nationale Option?

Die Eliten in Brasilien orientieren sich vor allem an den Interessen des Auslands - und nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung. Das ist die Konsequenz der neoliberalen Regierungspolitik von Präsident Fernando Henrique Cardoso. Die Consulta Popular ist eine Antwort auf dieses Verhalten. Wir wollen, dass die Bedürfnisse der unteren Klassen wieder im Mittelpunkt der brasilianischen Politik stehen. Und der Schlüssel dazu sind die Auslandsschulden. Diese Frage hat für uns vor allem deshalb Priorität, weil die Schulden dem Land alle Ressourcen nehmen, um seine sozialen Probleme lösen.

Mit der Arbeiterpartei (PT) und der linken Gewerkschaft CUT gibt es in Brasilien bereits zwei starke linke Organisationen. Warum ist eine Bewegung wie die Consulta Popular überhaupt nötig?

Die PT und CUT, die in den achtziger Jahren aus den sozialen Bewegungen entstanden sind, haben heute keine echte Verbindung mehr zu den Bedürfnissen und Forderungen der unteren Klassen. Die Opposition diskutiert über die Vorschläge der Elite und übt sich in Politikberatung. Wir wollen aber eine klare und radikale Option für dieses Land - und nicht einen Vorschlag, wie man den Kapitalismus in Brasilien besser verwalten kann.

Bei welchen Themen zeigt sich diese Anpassung besonders deutlich?

Vor allem in der Frage, wie man mit den Auslandsschulden umgehen soll. Die PT scheut eine Debatte über die Schuldenfrage, weil sie um ihre Wahlkampagnen und ihre Reputation fürchtet, wenn sie auf die Straße gehen und einen Zahlungsstopp verlangen würde. Schließlich ist diese Forderung bei der Mittelklasse und den Eliten nicht gerade populär. Wie soll sich Brasilien ohne internationales Kapital entwickeln, heißt es dort.

Wir haben erreicht, dass sich innerhalb der PT die Meinung ändert und die Partei mittlerweile unsere geplante Volksbefragung über die Auslandsschulden im September unterstützen wird. Eine eindeutige Aussage über ein Schulden-Moratorium gibt es aber noch nicht.

In der Frage der Auslandsschulden besteht wohl nicht die einzige Differenz.

Eine andere Frage ist das Parlament. Die PT und die CUT wurden in den achtziger Jahren gegründet und dienten damals als Katalysatoren der sozialen Kämpfe. In dem Maße aber, wie die PT immer mehr Parlamentssitze gewann, nahm sie einen großen Teil der lokalen Führungskräfte aus den Basisgruppen mit nach Brasilia. Seitdem beschäftigten sich diese ehemaligen Basisaktivisten vor allem mit den parlamentarischen Auseinandersetzungen und nicht mehr mit den sozialen Forderungen vor Ort.

Der Parlamentarismus darf aber kein Selbstzweck sein. Hier liegt einer der fundamentalen Unterschiede zur Entstehung der Consulta. Wir wollen keine neue Partei gründen, sondern die Gesellschaft durch die tägliche Praxis verändern. Deswegen richten wir uns wieder direkt an die sozialen Bewegungen.

Wie soll das Verhältnis von parlamentarischer Arbeit und sozialen Bewegungen aussehen?

Unser wichtigstes Ziel besteht darin, den sozialen Forderungen der Basis wieder mehr Nachdruck zu verleihen. Und wer im Parlament sitzt, soll diese Forderungen unterstützen und stärken. Diese beiden Bereiche gehören zusammen, die sozialen Bewegungen sollen ein Echo im Parlament haben. Aber für uns haben nicht die Wahlen Priorität, sondern die Organisation der Basis.

Was will die Consulta außer einem Zahlungsstopp noch erreichen?

Wir wollen das Bewusstsein der brasilianischen Bevölkerung stärken, die Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit erhöhen - mit dem Blick auf eine Transformation der Gesellschaft. Brasilien hat ein großes Potenzial und verfügt über einen enormen natürlichen Reichtum. Nur, was nutzt das, wenn 80 Prozent der Bevölkerung davon ausgeschlossen sind? Und wenn dieser Reichtum nur von einer kleinen Gruppe von Personen kontrolliert wird?

Unser Ziel ist daher zuerst die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft - in den Bereichen der Wirtschaft, der Information und der Kultur. In Brasilien beherrschen sechs Familien rund 90 Prozent der gesamten Medienbranche, ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Landes. Und einige wenige Unternehmen kontrollieren den gesamten Finanzsektor. Das müssen wir verändern.

Wie funktioniert die Mobilisierung?

Wir haben den »Schrei der Ausgeschlossenen« jetzt zum sechsten Mal gemacht. Die Kampagne startete 1995 - damals fanden in 160 Gemeinden Veranstaltungen statt. In diesem Jahr sind es bereits 1 200 Orte, d.h. in jeder vierten Gemeinde wird heute mobilisiert. Wir erreichen damit mittlerweile mehrere Millionen Menschen. Derzeit bereiten wir die große Kampagne für Anfang September vor: für ein nationales Plebiszit gegen die Zahlung der Schulden.

In den sechziger Jahren wurde mit der Dependenz-Theorie bereits ein ähnlicher Ansatz formuliert: Brasilien könne sich wegen der ökonomischen Abhängigkeit von den Metropolen nicht entwickeln und müsse sich vom Weltmarkt abkoppeln. Solche Überlegungen sind doch seit der so genannten Globalisierung illusorisch.

Unsere Forderungen haben nichts mit den sechziger Jahren zu tun, sondern mit den Bedürfnissen von heute. Wir wollen uns nicht auf Brasilien beschränken. Denn der Kampf gegen die Auslandsschulden ist ein Konflikt, der fast alle Länder der Welt berührt. Wir sind solidarisch mit den Ländern aus Lateinamerika, Afrika und Europa, die gegen die Schulden kämpfen. Unsere Kampagnen sind - wie beispielsweise der »Schrei der Ausgeschlossenen« - kontinental organisiert und nicht nur auf Brasilien bezogen.

Hätte ein Zahlungsstopp nicht zur Konsequenz, dass das internationale Kapital sofort abgezogen und die soziale und ökonomische Situation noch schlechter würde als sie heute schon ist?

Was bedeuten die internationalen Investitionen in Lateinamerika? 1980 wurden 23 Milliarden Dollar in Lateinamerika investiert; die Außenschulden betrugen damals 613 Milliarden Dollar. 1996 betrug die Summe der internationalen Investitionen 118 Milliarden, während sich die Schuldenlast des gesamten Kontinents bereits auf zwei Billionen Dollar gesteigert hatte. Und selbst das investierte Kapital hat zumeist nur spekulativen Nutzen. Was soll da noch schlimmer werden? Das Mindeste, was wir brauchen, ist eine Regulierung der internationalen Investitionen.

Während des Vietnamkrieges galt die weltweite Solidarität vor allem den nationalen Befreiungsbewegungen. Heute sind fast alle Länder in einen globalen Weltmarkt integriert. Was bedeutet dies für einen zeitgemäßen Internationalismus?

Das fundamentale Problem - die ungeheure Konzentration des Reichtums bei gleichzeitigem Ausschluss der Mehrheit der Bevölkerung - vollzieht sich heute überall auf der Welt. Vielleicht nicht in einem so ungeheuren Ausmaß wie in Brasilien, aber doch mit einer vergleichbaren Dynamik. Wir sind nicht gegen die Globalisierung. Doch in der Form, wie sie heute stattfindet, dient sie vor allem den internationalen Kapitalmärkten - und nicht den Bedürfnissen der Menschen. Der »Schrei der Ausgeschlossenen« gilt weltweit: Dieses Modell taugt nichts.