»Le nouvel esprit du capitalisme«

Schlauheit mit System

Die Linke muss die Kritik der Produktionsverhältnisse wieder mit der Kritik der Lebensverhältnisse zusammenbringen, fordern zwei französische Soziologen.

Das für den Kapitalismus grundlegende Verwertungsgesetz ist fundamental irrational und müsste eigentlich den Interessen der gesellschaftlichen Subjekte entgegenstehen. Denn selbst die Kapital-Besitzer sollten eigentlich ein Interesse daran haben, sich auf einem bestimmten Niveau einmal erwirtschafteter materieller Reichtümer auszuruhen und das Leben zu genießen, anstatt einer stets vorantreibenden Akkumulations-Maschinerie zu huldigen. Stattdessen unterwerfen sich die meisten von ihnen einem im Kern zerstörerischen Verwertungsprinzip, das sie stets aufs Neue der Konkurrenz unterwirft und damit ihre eigene Position bedroht.

Wie kommt es, dass Menschen sich mehr oder minder freiwillig einer solch irrationalen und zerstörerischen Maschinerie unterwerfen? Diese Frage stellen sich die Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Essay »Le nouvel esprit du capitalisme« (Der neue Geist des Kapitalismus). Der kapitalistische Prozess, so Boltanski und Chiapello, benötigt gesellschaftliche Legitimations-Mechanismen, welche ihre Wirkungskraft nicht aus dem Akkumulationsprozess selbst beziehen können. Diese Mechanismen basieren daher auf außerhalb der Verwertung selbst angesiedelten sozialen, ideologischen oder moralischen Glücksverheißungen, Antrieben, Regeln und Ge- oder Verboten.

Gesellschaftliches Handeln, so die Autoren, wird unter kapitalistischen Bedingungen auf sieben unterschiedliche Weisen reguliert. Sie sprechen von sieben Cités - Gemeinwesen - als idealförmigen Gesellschaftskonzepten. Diese Idee ist nicht neu, sondern zählt zum Standard-Repertoire der ökonomischen Schule der Regulationisten. Boltanski und Chiapello aber gehen weiter, indem sie Versuche, den Kapitalismus zu legitimieren und zugleich einzudämmen, historisch systematisieren.

In den diversen Konfigurationen eines auf unterschiedliche Weise regulierten Kapitalismus erkennen sie einen Grundmechanismus, der auf der Wechselwirkung zwischen dem Kapitalismus und der gegen ihn gerichteten Kritik beruht: Durch partielle Befriedigung der von der Kritik erhobenen Forderungen werden die Kritiker eingebunden, anschließend wird der Spielraum der Kritik zurückgedrängt und der Kapitalismus erneut gestärkt: Der Kreislauf kann von Neuem beginnen.

Für Boltanski und Chiapello ist der Kapitalismus im Laufe der Geschichte vier grundlegend unterschiedlich motivierten Kritikformen ausgesetzt. Zum ersten wird er als Ausdruck von Unterdrückung und Uniformisierung kritisiert. Eine zweite Kritikströmung klagt den Kapitalismus an, alles Echte und Unverfälschte, alle wahren menschlichen Gefühlsregungen zu zerstören, indem er an ihre Stelle das Käufliche und Verwertbare setze. Zum dritten wird der Kapitalismus als Quelle sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit kritisiert. Und zum vierten prangern manche Kritiker an, dass der Kapitalismus die Kälte und den Egoismus befördere, indem er der rücksichtslosen individuellen Interessen-Durchsetzung das Wort rede, und dass er dadurch die menschlichen Gesellschaften oder »natürlichen Gemeinschaften« zerstöre.

Jede dieser Kritiken hat eine potenziell rückwärtsgewandte, reaktionäre und eine fortschrittliche Seite. So kann die Denunziation des kapitalistischen Egoismus und Individualismus dazu führen, sich nach einer in »natürlichen Gemeinschaften« organisierten, geordneten Gesellschaft zurückzusehnen - aber auch dazu, vorwärts zu streben nach einer Assoziation freier und gleicher Individuen. Selten trifft man die vier Kritik-Strömungen gleichzeitig an. Da auch die Kritiker Individuen des Kapitalismus sind, kritisieren sie zumeist, jedenfalls in einem ersten Reflex, jenen Aspekt, der ihnen am nächsten liegt.

Für den jüngeren Zeitraum teilen die Autoren die Kritik in zwei große Strömungen ein: Die critique sociale hat die wirtschaftlich-sozialen Aspekte (Ungleichheit, Egoismus der Reichen) zum Gegenstand, die critique artiste die Aspekte der freien persönlichen Entfaltung (Unterdrückung durch die Fabrik-Disziplin, bürgerliche Familie und Moral). Beide wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts produktiv. Dadurch, dass sich die kapitalistischen Eliten zu unterschiedlichen Zeiten gegenüber einer der beiden Kritikströmungen öffneten - so die Grundthese der Autoren -, beförderten sie die Spaltung der linken Kritik.

Am Beispiel der Ereignisse der Jahre nach 1968 versuchen Chiapello und Boltanski, diese These zu belegen: Damals interpretierten die Funktionäre des Kapitals die sozialen Ausbrüche zunächst als Ausdruck der ihnen bis dahin gewohnten Kritik - der critique sociale im Sinne der Autoren, die von Gewerkschaften und Linksparteien getragen wurde. Und sie reagierten damit auf die gewohnte Weise: Mit einigen materiellen Zugeständnissen wie Lohnerhöhungen und Arbeitsplatz-Sicherheit. Doch die Kritik beruhigte sich nicht, im Gegenteil, die Fabriken drohten »unregierbar« zu werden. Daraufhin nutzten die Kapitalvertreter den Einschnitt der Ölkrise 1973/74 für eine Kehrtwende und nahmen sukzessive bisherige Zugeständnisse an die »soziale Kritik« zurück.

Denn unter dem Einfluss der Arbeitssoziologie kamen sie nun zu dem Schluss, dass diese Konflikte einem neuen Typ angehörten, in dessen Mittelpunkt eher das stand, was Boltanski und Chiapello critique artiste nennen. Namentlich die jungen Beschäftigten strebten vor allem nach Überwindung von Bevormundung und sinnentleert erscheinenden Fabrik-Hierarchien, nach Entfaltung ihrer Persönlichkeit und der Möglichkeit, ihre in einem deutlich längeren Schul- und Studienleben erworbenen Möglichkeiten gewinnbringend einzusetzen.

Nun lancierten die organisierten Kapitalverbände eine Art Revolution von oben. Zunächst gaben sie eine Reihe von Untersuchungen und wissenschaftlichen Studien in Auftrag; ein französischer Verband von Direktoren und Personalchefs ging sogar so weit, eine Delegation ins titoistische Jugoslawien zu schicken, um dort eingehend zu studieren, wie die Produktion unter den Bedingungen des »Selbstverwaltungs-Sozialismus« funktionierte. In Frankreich selbst begannen Kapitalorganisationen, sich für die Autogestion (Selbstverwaltung) zu interessieren, die zum zentralen Slogan diverser linksradikaler Bewegungen nach dem Mai 1968 geworden war.

In der Folgezeit begann die Kapitalseite mit dem, was Boltanski und Chiapello die »Dekonstruktion der Arbeitswelt« nennen. Ab Mitte der siebziger Jahre wurden bei großen Produktionseinheiten immer mehr Funktionen aus den Kernbetrieben und -sektoren in Subunternehmen ausgelagert. Zugleich versuchte man, bisher unerschlossene Kreativitätspotenziale bei den einzelnen Beschäftigten auszuschöpfen. Waren persönliche Initiative und Kreativität bislang gehemmt worden, wurden sie nun sogar ausdrücklich von den Arbeitenden eingefordert - natürlich im Sinne einer Optimierung des Verwertungsprozesses. Einer Neubewertung wurden auch Mobilität und fehlende »Ortsverwurzelung« unterworfen, die nun, da die klassischen bürgerlichen Familienstrukturen in Auflösung begriffen waren, selbst zum Wert erhoben wurden.

Als sich ab 1975 die vorherrschende Gesellschaftsform allmählich veränderte, schien die objektive Entwicklungstendenz in Übereinstimmung - wenn nicht im Bunde - mit der critique artiste zu stehen. Es ist also kein Wunder, wenn jugendliche Revoluzzer von gestern heute mit ihrem längst hohl gewordenen rebellischen Gestus zu objektiven Begleitern und Fürsprechern der dominierenden ökonomischen Logik geworden sind.

Die critique sociale wurde dagegen vom gesellschaftlichen Zug abgehängt. Gewerkschaften und Linksparteien wurden von der Neustrukturierung des Kapitalismus überrascht und vom Kapital als Ansprechpartner nicht mehr ernst genommen. In dieser Situation waren sie nicht mehr in der Lage, ihrem Publikum materielle Vorteile zu liefern. In Frankreich wurde die Kommunistische Partei als eine der wichtigsten RepräsentantInnen dieser Kritikströmung ab Ende der siebziger Jahre zunehmend diskreditiert. Es war letztlich der Kapitalismus - und nicht der Kommunismus - der scheinbar auf viele der Wünsche und Forderungen der 68er Generation einging und neue Identitäts- und Konsumangebote zur Verfügung stellte. Demgegenüber erschien die Idee eines kollektiven, sozialen Alternativprojekts plötzlich als rückwärtsgewandt und spießig.

Die Autoren hoffen darauf, die critique sociale wieder aufleben zu lassen und analytisch auf die Höhe der veränderten Formen des Kapitalismus zu bringen. Gleichzeitig müsste, so meinen sie, die critique artiste von ihrer Instrumentalisierung durch das herrschende ökonomische System befreit werden. Denn früher oder später müsse sich herausstellen, dass der Kapitalismus die mit der critique artiste verbundenen Wünsche nach voller Entfaltung der dem Menschen innewohnenden Potenziale gar nicht einlösen könne, sondern lediglich darauf abziele, aus den Teilnehmern am Produktionsprozess »das Beste herauszuholen« und deren Kreativitätspotenziale optimal zu nutzen.

Luc Boltanski/Eve Chiapello: Le nouvel esprit du capitalisme. Gallimard, Paris, 1999, 843 S., 195 Francs