Nachwuchs für den türkischen Fußball

Kanaken für Deutschland

Während die deutsche Nationalmannschaft auf bewährte Kräfte setzt, sucht der türkische Verband europaweit nach Nachwuchsspielern.

Frankreich hat es vorgemacht: Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1998 trat die Equipe Tricolore zur Hälfte mit Kindern von Einwanderern und Spielern aus den ehemaligen Kolonien an, erntete allenthalben Lob für diese balltretende multikulturelle Gesellschaft und wurde obendrein Weltmeister. Deutschland hingegen scheiterte im Viertelfinale an Kroatien - verwunderlich war daran nicht das Ausscheiden, sondern dass die DFB-Auswahl es überhaupt bis in die Runde der letzten Acht geschafft hatte.

Während sich der damalige Bundestrainer Hans-Hubert Vogts nach dem Kroatien-Spiel noch in Verschwörungstheorien übte (»Vielleicht ist der deutsche Fußball ja zu erfolgreich«), führte Multi-Funktionär Gerhard Mayer-Vorfelder die Niederlage gegen Kroatien auf frühere, ganz andere Niederlagen zurück: »Hätten wir 1918 die deutschen Kolonien nicht verloren, hätten wir heute in der Nationalmannschaft wahrscheinlich auch nur Spieler aus Deutsch-Südwest.« Und wären Weltmeister.

Nach der verkorksten WM sollte ein Neuaufbau her. Was also tun? Erneut zu einem Afrika-Feldzug aufbrechen? So weit wollte selbst Mayer-Vorfelder nicht gehen. Stattdessen forderte der zum rechten Parteiflügel zählende CDU-Politiker, man müsse auf die »Eltern junger Ausländerkinder zugehen«, um diese für das DFB-Team zu gewinnen. Auch Vogts stimmte zu: »Wir haben eine Multi-Kultur in Deutschland, warum soll man diesen Leuten nicht eine Chance geben?« Auf die besorgte Frage eines Reporters, ob denn eine »international« besetzte deutsche Nationalmannschaft noch ein Identifikationsangebot stifte, antwortete er jedoch: »Bei uns wird Deutsch gesprochen. Gerade auf dem Platz ist das einfache Wort gefragt, und die Fußballersprache ist eine einfache Sprache.«

Nachdem Erich Ribbeck Vogts' Amt übernommen hatte, fand dessen zaghaftes Multi-Kulti-Konzept ein jähes Ende. Und spätestens seit dem Rauswurf von Co-Trainer Uli Stielike ist die Rückkehr zu bewährten deutschen Tugenden und Spielern manifestiert. Mustafa Dogan fehlt im deutschen EM-Kader ebenso wie Oliver Neuville oder Zoltan Sebescen.

Nur Paolo Rink wurde berücksichtigt, und der trägt zwar einen brasilianischen Namen, kann aber nicht Fußball spielen, weshalb er im deutschen Team gut aufgehoben ist. Als Ribbecks Trumpf wird er nur deshalb gehandelt, weil er, anders als seine Stürmerkollegen, nicht bloß im Strafraum rumsteht und auf hohe Bälle wartet, sondern über die Flügel laufen kann.

Auch anderswo wurden Lehren aus der letzten WM gezogen. Denn mit Kubilay Türkyilmaz und Murat Yakin hatten erstmals seit 1954 wieder türkische Fußballer an einer WM teilgenommen - allerdings nicht in der türkischen Auswahl, die sich nicht hatte qualifizieren können, sondern im schweizerischen Team. Zudem hatte der in Deutschland aufgewachsene Dogan bereits für eine deutsche Jugendauswahl gespielt und war damit für die türkische Nationalmannschaft verloren.

Denn nach dem Fifa-Reglement darf ein Spieler, der, in welcher Alterskategorie auch immer, einmal bei einem offiziellen Länderspiel für ein Land gespielt hat, nicht mehr für ein anderes antreten.

Das sollte sich nicht wiederholen. Kein halbes Jahr nach der WM eröffnete der türkische Fußballverband in Dortmund ein Europa-Büro. Die Leitung der Dependance übernahm Erdal Keser, der in den Achtzigern für Borussia Dortmund und für die türkische Nationalelf gespielt hatte.

Seitdem versorgt das Europa-Büro die hiesige Community mit Eintrittskarten für Auswärtspiele der Nationalmannschaft oder türkische Vereine. Die wichtigste Aufgabe dieser weltweit einmaligen Einrichtung aber ist die Entdeckung junger Talente für die Nationalmannschaft.

Keser und seine Mitarbeiter sind europaweit im Einsatz, um Kicker von Jugend- und Amateurmannschaften zu sichten. Fallen ihnen dabei junge Spieler türkischer Herkunft auf, werden diese zum Probetraining der Jugendnationalmannschaften eingeladen. Die Aussichtsreichsten unter ihnen werden für ein offizielles Länderspiel nominiert.

Manchmal geht es auch schneller: Im Oktober 1998 spielte Bayern München in der Champions League gegen Manchester United. Die Bayern lagen 1:2 zurück, unter den Ersatzspielern fanden sich keine erfahrenen Stürmer. Coach Otmar Hitzfeld brachte den 17jährigen Berkant Göktan, der noch kein einziges Bundesligaspiel bestritten hatte. Keine zwei Wochen später absolvierte Göktan beim Qualifikationsspiel zur U-21-EM zwischen der Türkei und Deutschland sein Länderspiel-Debüt. Auf türkischer Seite, versteht sich.

Nicht neu ist das Phänomen, dass Kinder türkischer Einwanderer, die es hier bis in den Profibereich oder auch nur bis zur Regionalliga schaffen, von türkischen Vereinen aufgekauft werden. Im aktuellen EM-Kader stehen fünf Einwanderer der zweiten Generation. Außer dem noch für Leicester City spielenden Mustafa Izzet spielen die anderen vier längst in der Türkei. Typisch ist der Werdegang des Verteidigers Ümit Davala, der von Waldhof Mannheim zu Afyonspor wechselte, sich in der anatolischen Fußballprovinz hocharbeitete, um schließlich beim Uefa-Cup-Gewinner Galatasaray Istanbul zu landen.

In der vergangenen Saison standen mehr als 50 in Deutschland geborene Spieler bei türkischen Erstligaclubs unter Vertrag, etwa 20 weitere kamen aus anderen Auswanderungsländern. Fast jeder zehnte Erstligafußballer war damit ein Rückkehrer aus der europäischen Diaspora.

Im Profifußball ist die gerade in Deutschland lange gehegte Vorstellung vom vorübergehenden Aufenthalt der »Gastarbeiter« längst Realität geworden. Andererseits ist die Abwanderung der Spieler in das Land ihrer (Groß-) Eltern ein Zeichen für die rechtliche und gesellschaftliche Ausgrenzung der Migranten. Tagtäglich bekommen sie zu spüren, dass sie nicht dazugehören - dass sie, egal wie assimiliert sein mögen, doch Kanaken bleiben.

Denn während in der Bundesliga Nachwuchsspieler ohnehin nur selten eine Chance erhalten, ist es für nichtdeutsche Spieler, die selbst aus den hiesigen Jugendmannschaften kommen, noch schwieriger, sich durchzusetzen. So säuberte letztes Jahr Hertha BSC Berlin seine Jugendabteilung und feuerte etwa 50 nichtdeutsche Kinder und Jugendliche. »Wir nehmen größtenteils deutsche Spieler auf«, erläuterte Hertha-Jugendtrainer Uwe Großmann, »weil die Jungs ja später für Deutschland spielen sollen.« Der bei dieser Säuberung mitgeschasste einzige nichtdeutsche Jugendtrainer Mustafa Fezer erklärte: »Wenn ein deutscher Junge mit einem Fuß gut schießen kann, dann muss ein türkischer mit beiden Füßen gut sein, um bei Hertha eine Chance zu bekommen.«

Daher scheint für die Spieler eine Beschäftigung bei einem schlechten türkischen Erstligaclub sportlich und finanziell lukrativer zu sein als bei deutschen Teams ewig in der zweiten Mannschaft zu warten. Denn in der Türkei stehen die in Europa ausgebildeten Spieler im Ruf, Kraft, Disziplin und taktisches Verständnis mitzubringen. »Zu den technisch guten Spielern aus der Türkei«, meint Keser, »kommen die in Europa aufgewachsenen Talente. Diese Kombination aus verschiedenen Spielkulturen tut dem türkischen Fußball sichtlich gut.« Ein Vorteil für die Vereine ist zudem, dass aus Europa importierte türkische Spieler nicht die Ausländer-Kontingente berühren.

Das Europa-Büro aber will eigentlich nicht die türkischen Vereine, sondern die Nationalmannschaft mit Nachwuchs versorgen. Und tatsächlich macht sich Kesers Arbeit gerade im Juniorenbereich bezahlt: Von den 22 Spielern des türkischen Kaders bei der U-21 EM in der Slowakei sind sieben in Europa geboren, sechs davon in Deutschland. Die meisten von ihnen spielen noch immer bei deutschen Vereinen (Ali Günes/SC Freiburg, Yildiray Bastürk/VfL Bochum, Soner Uysal/Hamburger SV, Serhat Akin/ Karlsruher SC).

Das kann nach Ansicht des Büros auch so bleiben, denn ein fast schon traditionelles Manko der türkischen Auswahlkicker liegt in der mangelnden internationalen Erfahrung. Seit Keser und dem ebenfalls in den achtziger Jahren in der Bundesliga aktiven Ilyas Tüfekci ist es bislang keinem Spieler gelungen, sich langfristig in einem besseren europäischen Verein zu etablieren. Superstar Hakan Sükür scheiterte bei seinem Gastspiel beim AC Turin ebenso wie Hami Mandirali bei Schalke 04. In der nächsten Saison wird sich Mittelfeldspieler Tayfun Korkut bei Real Sociedad San Sebastian als erster Türke in der spanischen Primera Division probieren. Nein, es ist gut, wenn die Spieler im Ausland spielen, nur für das Nationalteam sollen sie eben gewonnen werden.

Es wäre allerdings übertrieben, in den türkischen Migrantenkindern Fußballgötter zu sehen, die dem deutschen Fußball wieder zu Titeln verhelfen könnten. Zwar konnte sich das türkische Team in der Qualifikation gegen Deutschland durchsetzen, die Ergebnisse bei der U-21 EM aber waren niederschmetternd: Nach drei Niederlagen gegen die Slowakei (1:2), England (0:6) und Italien (1:3) musste das Team vergangene Woche die Junioren-EM frühzeitig verlassen.