Ende des Front National

Lepenismus ohne Le Pen

Frankreichs Neofaschisten sind am Ende, doch ihre Ideologie lebt: Der Front National hinterlässt einen Selbstbedienungsladen für Rechtspopulisten.

Mit den Ideen rechtsextremer Parteien verhält es sich wie mit Atomkraftwerken«, kommentierte letztes Jahr das französische Antifa-Netzwerk Ras-Le-Front die Spaltung des französischen Neofaschismus in zwei größere Parteien: »Es genügt nicht, dass die Anlage stillgelegt wird, damit die Gefahr vorüber ist. Vielmehr muss man den gefährlichen Müll über größere Zeiträume von allem abgeschirmt lagern. Sonst droht eine großflächige Verseuchung.«

Ras-Le-Front spielte damit auf die Gefahr an, dass andere politische Kräfte sich nun der Ideologeme und Diskurs-Mechanismen bemächtigen, auf denen 15 Jahre lang die Erfolge des neofaschistischen Front National (FN) basiert hatten. Oder dass diese Diskurs- und Denkformen eine eigenständige Existenz in der gesellschaftlichen Landschaft fortführen, auch nachdem ihr bis dahin wesentlicher politischer Träger an Bedeutung verloren hat: beispielsweise die Idee einer »nationalen Schicksalsgemeinschaft« als Quelle von oder Ersatz für soziale Absicherung. Oder die Vorstellung, es gebe einen engen Zusammenhang zwischen Einwanderung, so genannter Unsicherheit und Kriminalität, aus dem der Ruf nach hartem staatlichem Durchgreifen abgeleitet werden könne.

In vielen Staaten nutzen konservative Parteien zumindest Versatzstücke dieser Diskurse als Erfolgsrezept, um eine gesellschaftliche Basis zu mobilisieren und zu verbreitern, der ein kollektives soziales Interesse oftmals fehlt. Eine Partei wie der Front National hat diese Einzelideologeme lediglich in einem Gedankengebäude zu einer in sich geschlossenen, kohärenten Weltsicht zusammengefasst und setzt dies nunmehr als Global-Alternative dem bestehenden System entgegen, das als »verfault« und »dekadent« beschrieben wird. Nach der Spaltung des FN besteht auf mehreren Seiten die Versuchung, dessen rassistische und Law-and-Order-orientierte Diskurs-Mechanismen erneut zu nutzen - aber dieses Mal im Dienste einer system-immanenten und mit dem bürgerlich-konservativen Lager kompatiblen Politikkonzeption.

Diese Tendenz wird durch das Überlaufen einer Reihe von parlamentarischen Mandatsträgern der Neofaschisten verstärkt. Dabei handelt es sich selten um »politische« Überläufer, sondern in der Regel um Parlamentarier, die wegen des Niedergangs der beiden Rechtsparteien um ihr politisches Überleben besorgt sind. Im März 1998 waren insgesamt 275 Rechtsextreme in die Regionalparlamente gewählt worden. Mittlerweile sind 30 von ihnen aus den beiden neofaschistischen Parteien FN und MNR ausgetreten, fast jede Woche kommt ein neuer hinzu. Mindestens 23 unter ihnen gehören mittlerweile einer der bürgerlichen Parlamentsfraktionen an. Besonders stark ist dieses Phänomen im Großraum Lyon sowie in Frankreichs Südost-Region Provence - Alpes - C(tm)te d'Azur.

Führend im Recyceln ehemaliger FN-Parlamentarier ist die im vergangenen Jahr von dem nationalpopulistischen Ex-Innenminister Charles Pasqua und dem Rechtskatholiken Philippe de Villiers gegründete Partei RPF (Sammlung für Frankreich). Im Europaparlament bildet die RPF bereits eine gemeinsame Fraktion mit den italienischen »Postfaschisten« der Alleanza Nazionale (AN) unter Gianfranco Fini. Das Projekt des RPF ist es weniger, eine neue rechtsoppositionelle Kraft zu gründen; vielmehr geht es darum, ein neues Auffangbecken auf der Rechten zu schaffen und dessen Wähler bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2002 im zweiten Wahlgang dem bürgerlichen Kandidaten Jacques Chirac zuzutreiben. Derzeit kann der RPF diese Rolle jedoch kaum spielen, denn Pasqua und de Villiers überziehen sich gegenseitig mit Gerichtsverfahren. Pasqua hat jüngst erklärt, er bedaure es, überhaupt eine Partei gegründet zu haben.

Auf wahlarithmetischer Ebene haben Rassismus und Law-and-Order-Denken zur Zeit einen schlechteren Stand als in den letzten Jahren. Dennoch gibt es keinen Grund zur Entwarnung, denn in der öffentlichen Meinung stabilisieren sich gleichzeitig die rassistischen Ideologien. Es ist eine Frage der Zeit, wann sich erneut eine politische Kraft findet, die sich ihrer bedient.

Ein erstes Anzeichen dafür enthielt der Jahresbericht über die Lage des Rassismus in der französischen Gesellschaft, der alljährlich im März durch die Nationale Beratungs-Kommission für Menschenrechte - ein unabhängiges Beratungs-Gremium der Regierung - präsentiert wird. Nachdem der Einfluss rassistischer Thesen in den Vorjahren wegen der wirtschaftlichen Konjunktur und des relativen Rückgangs der Erwerbslosigkeit, aber auch wegen der antirassistischen Gegenbewegungen erkennbar zurückgegangen war, verzeichnete der Bericht nun ein erneutes Ansteigen des Rassismus. Führend waren dabei weniger die erklärten Rassisten als die 'Unentschiedenen' in der Mitte - und der Anteil von erklärten Antirassisten nimmt ab.

Eine Zahl aus dem Bericht fand in den Medien besondere Beachtung: 69 Prozent der Franzosen stuften sich selbst als mehr oder minder rassistisch ein. Abgestuft lauten die Resultate der Befragung: Zwölf Prozent sehen sich selbst als 'eher rassistisch', 27 Prozent als 'ein bisschen rassistisch', 29 Prozent als 'nicht sehr rassistisch' und 30 Prozent als 'überhaupt nicht rassistisch'. Damit ist in etwa das Niveau von 1990/91 erreicht, also der finstersten Jahre der französischen Innenpolitik. Die zuletzt genannte Zahl, jene der erklärten Nicht-Rassisten, war im Laufe der neunziger Jahre zunächst allmählich, dann ab 1995 deutlich angewachsen; 1997 und 1998 lag der Wert zwischen 35 und 40 Prozent. Nun ist die Zahl zu Gunsten jener zurückgegangen, die sich für 'nicht sehr rassistisch' halten.

Ende Mai machte die Pariser Abendzeitung Le Monde mit dem Titel auf : »Die extreme Rechte: Es ist nicht zu Ende.« Das Blatt konstatiert, die Spaltung und relative Schwächung des Neofaschismus habe dafür gesorgt, dass zugleich die Hemmungen gegenüber ihren Ideen abgenommen hätten und diese nunmehr »komplexfreier« durch andere übernommen würden. Als Beleg dafür dienen Le Monde Umfragedaten, die für Aussagen wie »Es gibt zu viele Immigranten in Frankreich« (59 Prozent »Ja«), »Man muss der Polizei viel mehr Vollmachten geben« (64 Prozent Zustimmung) oder »Man muss die Todesstrafe wieder einführen« (45 Prozent Befürworter) hohe Zustimmungswerte ergeben.

Diese Werte werden allerdings nicht mit jenen der Vorjahre verglichen. Die Autoren setzen sich damit dem Vorwurf einer unhistorischen Herangehensweise aus. So antwortete die Politikforscherin und FN-Spezialistin Nonna Meyer Anfang Juni in einem Beitrag für Le Monde, zumindest für einige der Fragestellungen seien die Zustimmungswerte in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies gilt insbesondere für die Anhänger der Todesstrafe, deren Zahl zwischen 1988 und 2000 von 61 auf 45 Prozent zurückging und die jetzt - erstmals - in der Minderheit sind. Trotz der Kontroverse ist klar, dass sich beispielsweise die Zustimmung zu rassistischen Aussagen in den letzten Jahren zumindest stabilisiert hat.

Der zweite Beleg, den Le Monde für die These einer Banalisierung bestimmter, ehemals mit der extremen Rechten identifizierter Thesen anführt, ist weniger diskutabel. Es handelt sich um das spürbare Anwachsen der Zahl jener Anhänger der bürgerlichen Parteien, die sich für Bündnisse mit den verbliebenen Resten des Neofaschismus aussprechen. Elf Prozent der Befragten hatten sich 1999 für die Kommunalwahlen, die im März kommenden Jahres anstehen, lokale Bündnisse der Konservativen mit den Rechtsextremen gewünscht, im Frühjahr 2000 waren es schon 19 Prozent. 57 Prozent der Anhänger der wirtschaftsliberalen Partei Démocratie Libérale (DL) sowie 59 Prozent der Gefolgschaft des national-konservativen RPF befürworten solche Allianzen. Die Wähler der konservativ-liberalen Parteien RPR und UDF sind zurückhaltender, sieben von zehn sprechen sich gegen Allianzen mit den Neofaschisten aus.