Atomkonsens der Sozialdemokratie

Strahlend modern

Mit dem Atomkonsens ist der Sozialdemokratie eine nachhaltige finanzielle und politische Erneuerung der deutschen Atom- und Stromwirtschaft gelungen.

Das Ende kam unverhofft: Als im April 1989 der damalige Veba-Chef Rudolf von Bennigsen-Förder das Aus für die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) im bayerischen Wackersdorf erklärte, hatte niemand mit einer solchen Entscheidung gerechnet. Dennoch: Die nordrhein-westfälischen Stromkonzerne wollten nicht mehr, und so wurde nichts aus den Plänen, die strahlende Fabrik in die Oberpfalz zu pflanzen.

Ersatzweise wurde der atomare Müll ins französische La Hague geliefert. So legte es ein Vertrag fest, den das Energieversorgungsunternehmen (EVU) mit der Cogema, der Betreiberin der WAA La Hague, ausgehandelt hatte. Für die Atomwirtschaft war der Deal günstig: Man konnte Kosten sparen und gleichzeitig die internationale Ausrichtung forcieren. Der Kurs galt als Sieg der Markt-orientierten Kräfte in Politik und EVU über die Atom-Ideologen aus der bayerischen Regierung. Nebenbei wurde die Anti-AKW-Bewegung mit dem Aus von Wackersdorf kalt erwischt.

Elf Jahre später ermöglicht der nun vereinbarte Atomkonsens die weitere Modernisierung der deutschen Energiewirtschaft im europäischen Konzert. Mit dem Konzept der »dezentralen Zwischenlagerung« wird langfristig die teure Wiederaufarbeitung durch die preiswertere direkte Zwischenlagerung ersetzt. Neben die regionalen Atommüll-Lager in Ahaus, Gorleben und Greifswald treten dezentrale Lager an den Kraftwerksstandorten selbst.

Damit fallen zumindest mittelfristig die Castor-Transporte weg. Die Folge: Die Anti-AKW-Bewegung verliert ihren derzeit wichtigsten Bezugspunkt und die Öffentlichkeit das einzige mediale Ereignis, das die unlösbare Atommüllfrage immer wieder auf die politische Tagesordnung setzte.

Zufrieden können dagegen die Betreiber der Cogema sein. Der bereits nach La Hague gelieferte deutsche Atommüll wird dort weiter verarbeitet werden. So regelt es Punkt III, Absatz zwei des Konsensvertrages. Dort werden die Altverträge noch einmal bestätigt - ein Glücksfall für die Plutoniumfabrik, drohte ihr doch selbst das Aus für den Fall, dass die Deutschen als größte Kundengruppe weggefallen wären.

Die Situation ist paradox: Der Dritte Weg der Sozialdemokratie und ihrer grünen Weggefährten fördert tatsächlich die Stilllegung einiger atomarer Anlagen. Bei derzeit mehr als 25 Prozent Überkapazität in der Stromerzeugung gebietet der Zwang des europäischen Marktes, dass nicht konkurrenzfähige Betriebe abgeschaltet werden.

Folgerichtig steht den kleinsten und kostenintensivsten Meilern das Ende bevor. Mit solchen Stilllegungen können sich nun die Grünen brüsten. Weil nach dem Vertrag aber Reststrommengen in Terrawattstunden umgeschichtet werden dürfen, kann etwa innerhalb der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW) das größere AKW Brokdorf länger am Netz bleiben. Durch Fusionen in der Branche werden die Strommengen der einzelnen AKW de facto frei übertragbar.

Auch in der Sicherheitsphilosophie liegt die Vereinbarung zwischen Rot-Grün und der Energiewirtschaft auf der Höhe der Zeit: »Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen.« Sprich: Die Aufsichtsbehörden werden auf technische Verbesserungen im Sicherheitsstandard verzichten. Damit steigt die Rentabilität der größeren AKW mit jedem Jahr Laufzeit an. Der ökonomische Imperativ ist eindeutig, die moralische Verpflichtung gegenüber den Aktionären bindend.

Markierte der Einstieg der Veba in La Hague die westeuropäische Dimension des Strommarktes, so werden mit der jetzigen Vereinbarung die Investitionssicherheit des Standortes und die Kräfte der weiteren Internationalisierung gestärkt. Strommanager Dietmar Kuhnt - einer der zentralen Unterhändler der Energiewirtschaft - plant in den nächsten zehn Jahren mit 25 bis 30 Milliarden Euro für den Zukauf von Unternehmen alleine bei der RWE. Durch die voraussichtliche Abschaltung von drei bis vier Anlagen in den nächsten Jahren wird der Wandel der großen EVU zum Stromhändler forciert.

Neben französischem Atomstrom drängt mittelfristig ukrainischer Atomstrom auf den westeuropäischen Markt. Die projektierten Reaktoren in Khmelnitzky und Rowno sollen mit westeuropäischer Technik gebaut und später mit Strom bezahlt werden. Dasselbe »Strom gegen Technologie»-Prinzip gilt mehr oder minder bei allen osteuropäischen Aus- und Neubauten, die aus Westeuropa mit Krediten vorfinanziert werden.

Eine Voraussetzung für solche Deals ist allerdings der Abbau der Überkapazitäten in Hauptstromimportländern wie Deutschland. Dieser notwendigen Verringerung werden weiterhin vor allem die kleinen Kraftwerke der regionalen Erzeuger zum Opfer fallen. Schon in den letzten fünf Jahren sind so über 60 000 Stellen gestrichen worden.

Von Reaktordienstleistung, Uranverarbeitung und Brennelementefertigung wollte man in den Konsensgesprächen nicht reden. Wenig verwunderlich: Für die Industrie gibt es dort keinen Handlungsbedarf. Die Gronauer Urananreicherungsanlage wird mit Segen der rot-grünen Regierung von Nordrhein-Westfalen zu einem der weltweit führenden Standorte ausgebaut.

Für Unruhe in Gronau sorgen lediglich Übernahmegerüchte durch die British Nuclear Fuels Limited, die unter anderem die WAA in Sellafield betreibt. Schließlich sorgt die britische Anlage wegen schwerer Umweltmängel, Dokumentationsfehler und Missmanagement ständig für Ärger. Zuletzt musste Regierungschef Tony Blair in Japan einige Patzer ausbügeln, um die dortigen Plutoniumkunden bei der Stange zu halten.

Die nationale Orientierung in den so genannten Ausstiegsgesprächen war die strategische Sackgasse, aus der die Bündnisgrünen zu keinem Zeitpunkt herausgefunden haben. Die SPD kann mit den Ergebnissen dagegen gut leben, hat sie doch wieder einmal Modernität und Fähigkeit zum Konfliktmanagement bewiesen. In einem Konsens unter den Bedingungen des liberalisierten Strommarktes waren Spielräume für nationale Ausstiegsszenarien nur in der Frage der Endlager vorhanden. Hier hat die Regierung mit der grundsätzlichen Eignungserklärung für Schacht Konrad bei Salzgitter und den Salzstock in Gorleben die Wünsche derWirtschaft beinahe übererfüllt, denn auf wissenschaftlicher Ebene werden ohnehin bereits internationale Endlager diskutiert.

Die Option »nationales Endlager für Atommüll« ist vorläufig die letzte Bastion politisch-parlamentarischer Einflussnahme auf Nationalstaatsebene. Mit dem Ende des Moratoriums für Gorleben und der Erweiterung der EU Richtung Osten wird auch diese den Markterfordernissen untergeordnet werden.