Sherpas im Himalaya

Barfüßige Engel

Schwere Lasten, hohe Berge, kaum einer kennt sie - Sherpas haben es nicht leicht.

Um den ersten Millionengewinn in der Quizshow »Wer wird Millionär?« zu verhindern, gab es wahrscheinlich kaum eine geeignetere Frage als die nach dem Sherpa, der Sir Edward Hillary auf der ersten erfolgreichen Besteigung des Mount Everest begleitet hatte. Lastenträger, meistens Sherpas, wurden schließlich lange Zeit nicht mit Namen erwähnt. Damit, dass der erste RTL-gemachte Millionär den richtigen Namen wusste, Tensing Norgay, konnte kaum gerechnet werden.

Die US-amerikanische Ethnologin Sherry B. Ortner erforscht seit Jahrzehnten die Geschichte der Sherpas, die seit Beginn der Klettereien im Himalaya an der Seite der von ihnen »Sahibs« genannten westlichen Sportler versuchen, Berge zu besteigen. »Die Welt der Sherpas« ist ein Standardwerk über die von der westlichen Geschichtsschreibung vernachlässigten Abenteurer. Wer weiß schon, dass der Name des erfolgreichsten Mount Everest-Besteigers Babu Chiri Sherpa lautet - zehnmal schaffte er es auf den Gipfel, darunter viermal von der Nordseite her?

Ortner räumt mit allen Vorurteilen rund um die Sherpas auf und beleuchtet ihre Geschichte. Bereits 1907 hatten die beiden Norweger C.W. Rubenson und Monrad Ås versucht, den 7 320 Meter hohen Kabru mit Hilfe der nicht an religiöse Ernährungsvorschriften gebundenen einheimischer Träger zu besteigen. Die Gruppe schaffte es nicht, trotzdem prägten ihre Aufzeichnungen das künftige Bild der Sherpas als leistungsstarke Männer: »Die Hauptsache ist, so gute und willige Kulis zu haben wie wir sie hatten; ordentlich ausgestattet und freundlich behandelt, überwinden sie alles, auch was eigentlich unmöglich erscheint.«

Bei den englischen Expeditionen, die mehr als zehn Jahre später die Erstbesteigung des Mount Everest zum Ziel hatten, war der Umgangston nicht so höflich. Die Bergsteiger jener Zeit entstammten meist den oberen Gesellschaftsschichten. In ihre romantisch-verklärte Sicht des Bergsteigens passten jene »Wesen«, die, wie Ortner schreibt, als »in den Bereich der Natur gehörend wahrgenommen« wurden. »Zum Beispiel wählte die Everest-Expedition von 1924 die Sherpas zum Teil nach Gesichts- und Körpertypen aus.«

Schließlich ging es um Berge als Orte der Reinheit. »Die dominierende Idee bei diesem Diskurs über das Natürliche und Unverfälschte« sei, so Ortner, dass die Sherpas für die Sahibs »wie Kinder waren«, entsprechend wurden sie beschrieben: »Diese engelsgleichen Männer der Berge, stämmig und kräftig, glücklich und fröhlich«, so charakterisierte Bergsteiger Kohli die Sherpas. »Barfüßige Engel« wurden sie von seinem japanischen Kollegen Miura genannt.

Die angebliche Kindlichkeit sahen die Sahibs auch in der Teilnahmslosigkeit begründet, mit der Sherpas Todesfällen bei Expeditionen angeblich so oft begegneten. In der Sherpa-Religion gilt Trauern und Weinen jedoch als verpönt, denn die Seele eines Verstorbenen ist so lange mit dem alten Leben verknüpft, wie um ihn geweint wird. Allenfalls den Frauen ist es eine kurze Zeit erlaubt zu weinen, Männer dürfen kaum Schmerz zeigen.

Trotzdem scheinen viele der Berichte über die meist als »teilnahmslos, abgestumpft« bezeichneten Reaktionen der Sherpas auf Todesfälle nicht zu stimmen, wie Ortner feststellt. Durch stenge religiöse Vorschriften an emotionale Disziplin gewöhnt, taten sich die meisten Lastenträger zwar schwer damit, Gefühle zu zeigen, aber trotzdem gab es auch immer wieder Schilderungen, dass die Sherpas genau so trauerten wie die Sahibs. Gemeinsam entwickelte man zudem Trauerrituale, die in den Basiscamps noch heute eingehalten werden, oft unter Beteiligung der Verwandten.

Lange hielt sich auch die Vorstellung, dass die Sherpas ihren Job nicht nur des Geldes wegen machten. Aus »rein ethischen Motiven« und wegen »einer edlen natürlichen Veranlagung« kletterten sie, so die Meinung von Paul Bauer (1930), in extreme Höhen, dabei sah die Realität anders aus.

Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Sherpas auf der Suche nach Arbeit ins Himalayatal gekommen, genauer: nach Darjeeling. 1901 wurden bei einer Volkszählung 3 450 Sherpas registriert. Die soziale Gliederung war sehr hierarchisch, die so genannten Großen, die reichen Bürger, verfügten über ausgedehnten Landbesitz. Eines der Erkennungsmerkmale der Standeszugehörigkeit war der Lastentransport. Die Großen beschäftigten andere Menschen zum Brennholzsammeln, Wasserholen, zum Einbringen der Ernte und zum Transport von Handelswaren über weite Wege. Die Angehörigen der Mittelschicht, meist Kleinbauern oder Ladenbesitzer, waren dagegen stolz darauf, nur die eigenen Lasten zu tragen, aber niemals die eines anderen. Den armen Sherpas, die meist als Transportarbeiter tätig waren, boten die recht gut bezahlten Jobs bei den Sahib-Expeditionen dagegen eine gute Gelegenheit, die Familie zu ernähren. Schließlich ergaben sich dort sogar Karrierechancen. Wer als Koch anfing und sich als belastbar erwies, der konnte vielleicht zum so genannten Sandar aufsteigen. Den Sandars ließen viele Sahibs freie Hand bei der Auswahl des Teams, eine gute Möglichkeit, Freunden und Verwandten Jobs zu verschaffen.

Leicht verdiente man sein Geld bei den Expeditionen nicht. 1921 kam der erste Sherpa auf einer britischen Erkundung des Mount Everest ums Leben, sein Name ist nicht überliefert. Trotzdem weigerten sich Sherpas nur selten, ihren Dienst weiter zu verrichten. Notfalls griffen die Sahibs aber auch zu Gewalt. Bei der deutschen Kangchendzönga-Expedition 1931 wurden zwei verängstigte Träger zum Weitergehen gezwungen. Die Briten versuchten es mit einem System von Erziehung und Belohnung, bei der Expedition von 1922 wurden die Sherpas mit Olympiamedaillen belohnt, ab dem Jahr 1939 wurde die bis heute geläufige Tigermedaille des Himalaya-Clubs in Darjeeling überreicht. Sie war sehr begehrt, bedeutete sie doch auch einen höheren Tageslohn.

Langfristig waren die Sherpas mit ihrem Status als dekorierte Helfer nicht zufrieden, hing doch der Erfolg der meisten Expeditionen von ihnen ab. 1963 kam es zu ersten Protesten. Bei einer US-Expedition ging es den Sherpas nur vordergründig um die Verteilung von Schlafsäcken, dahinter stand die Forderung nach Anerkennung als gleichwertige Partner. »Fast einen ganzen Tag lang wurde das Basislager zu einer Art Gerichtssaal im Freien, wobei ausgesuchte ðBerganwälteÐ (und die Sherpas haben einige gute) ihren Fall vortrugen und auf Präzedenzfälle bei vorangegangenen Expeditionen verwiesen«, heißt es in einem von Ortner zitierten Bericht.

Die Anerkennung als gleichwertige Partner ließ nicht lange auf sich warten, und am Ende waren sich Sahibs und Sherpas einig. Damals, Mitte der Siebziger, war die erste Frauenexpedition gestartet. Sogar die traditionell unterdrückten Sherpa-Frauen hatten daraus das Recht abgeleitet, Geld als Trägerinnen zu verdienen. Die Männer, die bisher das Bergsteigen beherrscht hatten, versuchten nun, die Frauen von ihren heiligen Bergen fernzuhalten. Erfolglos, wie Ortner belegt. Denn die Berge gehören allen.

Sherry B. Ortner: Die Welt der Sherpas. Leben und Sterben am Mount Everest, Gustav Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach 2000, DM 49,80