Kutschma unter Druck

Am laufenden Band

Der mysteriöse Tod eines Journalisten ist zur Waffe im Machtkampf konkurrierender ukrainischer Oligarchen geworden.

Die kopflose, verbrannte Leiche eines regierungskritischen Journalisten und ein Tonband, auf dem angeblich festgehalten ist, wie der ukrainische Präsident Leonid Kutschma das »Verschwinden« des Journalisten anordnet, Demos und Zeltlager oppositioneller Studenten vor dem Präsidentenpalast - nach allen klassischen Kriterien steckt die Ukraine in einer veritablen Staatskrise.

Der Online-Journalist Georgi Gongadze verschwand im September 2000. Wochen später wurde eine enthauptete Leiche mit großer, aber nicht vollkommener Sicherheit als die seine identifiziert. Im November veröffentlichte Kutschmas Rivale, der Chef der sozialistische Partei, Aleksander Moroz, im Parlament Abhörprotokolle, aus denen hervorgehen soll, dass Präsident Kutschma die Entführung des Journalisten befohlen habe.

Ein inzwischen ins Ausland geflohener Geheimdienstoffizier und Leibwächter Kutschmas hatte dem Oppositionsführer ein Tonband übergeben, auf dem drei Stimmen zu hören sind. Am besten sei es, so einigten sich die Sprechenden, Gongadze von Tschetschenen entführen zu lassen, die ein unbezahlbares Lösegeld verlangen. Alexandr Moroz erklärte, die Stimmen gehörten Kutschma, seinem Innenminister und seinem Stabschef. Zwei Parlamentsmitglieder haben die Stimmenzuordnung bestätigt, Staatsanwälte und eine unabhängige niederländische Kommission sehen sich aber nicht in der Lage, die Stimmen zu identifizieren.

Jean-Christophe Menet von Reporter ohne Grenzen sagt, es geschehe immer häufiger, dass ukrainische Journalisten bedroht oder angegriffen werden: »Es passieren bizarre Dinge.« Die Journalistengewerkschaft teilte mit, dass in den neun Jahren der unabhängigen Ukraine 38 Journalisten auf mysteriöse Weise starben. Teils kamen sie bei Unfällen ums Leben, teils wurden sie auf offener Strasse erschossen.

Seit vier Wochen demonstrieren nun Studenten und Journalisten in Kiew. Das kam den mit der Kutschma-Fraktion konkurrierenden Oligarchengruppierungen gelegen; sie schlossen sich in einem »Forum der Nationalen Rettung« zusammen, das aus gemäßigten Nationalisten, Vereinigungen von Geschäftsleuten, Sozialdemokraten und den Sozialisten von Aleksander Moroz besteht, die ukrainischen Kommunisten jedoch nicht einschließt.

Die Oppositionsführer haben ebenso wie Kutschma meist eine Hausmacht in einem der staatlichen oder halbstaatlichen Großbetriebe der Ostukraine. Die einzige inhaltliche Gemeinsamkeit besteht in der Gegnerschaft zu Kutschma und dem Anspruch auf die Macht im Staat. Der Präsident, die Wirtschaftskartelle und die regierungstreuen Medien können bisher alle Proteste und Demonstrationen ignorieren. Und selbst ein Sturz Kutschmas würde innenpolitisch nur wenig ändern.

Beide Seiten werfen sich Korruption, die Verzögerung von Reformen und eine antidemokratische Gesinnung vor. Kutschma hält einige der Oppositionsführer für »Lenins«, die »nicht Menschen, sondern eine Kuhherde« auf die Straße schicken. Der Tonbandskandal sei wohlorganisiert und -finanziert. Kutschma entließ die Vorgesetzten des Leibwächters, der das fragliche Gespräch aufgenommen hat, den Staatsanwalt, der im Fall Gongadze ermittelte, und ging ansonsten zur Tagesordnung über.

Vor zwei Wochen empfing Kutschma Wladimir Putin. Die beiden Präsidenten vereinbarten eine enge Kooperation in den Bereichen Raumfahrt und Energiepolitik. Die Revitalisierung der ukrainisch-russischen Zusammenarbeit wird im Westen misstrauisch beobachtet. Associated Press hält das Abkommen für einen Schlag gegen die USA, die die Ukraine als einen Puffer gegen russische Ambitionen finanziell und militärisch unterstützt hätten. Auch die Los Angeles Times kritisiert, dass Kutschma nun wieder die Unterstützung des Kreml suche, obwohl die Ukraine mit viel US-Hilfe als Gegengewicht zur russischen Macht aufgebaut worden sei.

Kutschma pokert weiterhin nicht nur mit Russland, sondern auch mit dem Westen. Einen Tag nach Putin tauchten Vertreter der Europäischen Union in Kiew auf. Die schwedische Außenministerin Anna Lindh, deren Land derzeit die EU-Präsidentschaft innehat, sprach mit Kutschma über »die europäische Integration der Ukraine und über Sicherheitsfragen«. Als sich Kutschma Ende Januar in Berlin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder traf, ging es um »Möglichkeiten der verbesserten Zusammenarbeit«. Weder Lindh noch Schröder hielten sich lange beim Journalistenschwund auf.

Doch offenbar kam man sich in Wirtschaftsfragen trotzdem kaum näher und konnte keinen nennenswerten Vertrag abschließen. Kutschmas derzeitige Annäherung an Russland resultiert also wohl auch aus dem Mangel an Alternativen. Weder militärisch noch ökonomisch kam man in den letzten Jahren mit der EU voran.

Zwar hält Felicitas Möllers von der Deutschen Bank Research, die auch Mitglied der Beratergruppe der ukrainischen Regierung ist, die wirtschaftliche Stagnation der vergangenen Jahre für überwunden. Das 1 000-Tage-Programm des prowestlichen Premierministers Wiktor Juschtschenko habe die Wirtschaft stabilisiert, resümiert sie in ihrer Studie »Ukraine on the Road to Europe«.

Doch die wirtschaftliche Lage der Ukraine hat sich ständig verschlechtert. Im vergangenen Jahrzehnt nahm die Industrieproduktion um 70 Prozent ab. Seit 1990 hat sich die landwirtschaftliche Produktion halbiert. Experten befürchten eine Hungerkatastrophe, falls die für dieses Jahr angekündigten Agrarreformen des IWF tatsächlich durchgeführt werden. Die Löhne einfacher Arbeiter seien in den vergangenen zehn Jahren um 70 Prozent gesunken, berichtet die ukrainische Zeitung Den. Ihr ohnehin kümmerliches Einkommen wird von einer galoppierenden Inflation noch weiter gemindert. Schon im vergangenen Mai stand das Land vor der Zahlungsunfähigkeit. Nur durch eine Umschuldung unter Leitung einiger führender europäischer Banken, wurde der drohende Kollaps verhindert. Kurz nach Beginn der Demonstrationen gegen Kutschma gab der IWF mit 246 Millionen Dollar die erste Tranche eines 2,6-Milliarden-Kredits frei.