Die Niederlande verpassen die Qualifikation zur Fußball-WM

Over en uit, Oranje

Die Niederlande machen derzeit vor, wie man ohne Hysterie mit einer verpassten WM-Qualifikation umgehen kann.

Es wird am vorletzten Samstag vermutlich zunächst viel Freude vor deutschen Fernsehern geherrscht haben, denn die ARD übertrug vor dem Spiel Deutschland gegen England das überraschende Scheitern der niederländischen Kicker in der WM-Qualifikation.

Dass die Deutschen nur wenige Stunden später ähnlich perplex wie ihre niederländischen Kollegen vom Platz gehen würden, erschien zu diesem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen, entsprechend hämisch fielen die ersten Reaktionen in Deutschland aus.

Wenn die deutschen Fußballfans in der Folge nur ein bisschen aufgepasst statt anderer Fußballnationen Niederlagen gefeiert hätten, hätten sie etwas Wichtiges lernen können: Wie man würdevoll mit Niederlagen umgeht, zum Beispiel, oder auch, wie man Hysterie vermeidet.

Aber als gegen Viertel nach neun am selben Abend auch Deutschland verloren hatte, offenbarte sich ein entscheidender Unterschied zwischen den Anhängern der Völler-Elf und denen des Teams von Louis van Gaal. Deutsche Fans und Sportjournalisten nehmen Niederlagen persönlich. Enttäuschte Medienvertreter seien nach dem Abpfiff in München sogar so weit gegangen, ihre Sitzkissen aufs Spielfeld zu schleudern, berichtete Spiegel online; und diese Wut setzte sich in den Schlagzeilen der nächsten Tage ungebremst fort. Dabei hat die deutsche Nationalmannschaft im Gegensatz zu den Oranjes weiterhin gute Chancen, sich über die Relegation für die WM zu qualifizieren.

In den niederländischen Medien nahm man das Scheitern dagegen bemerkenswert gelassen hin. »Over en uit«, »Aus und vorbei«, titelten die Zeitungen sinngemäß, in den meisten Artikeln ging es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Fehleranalysen.

Einzig De Telegraaf forderte mehr oder weniger offen den Rücktritt des Trainers. Einen Tag später musste die Zeitung auf der Titelseite eine Umfrage veröffentlichen, nach der zwei Drittel aller Niederländer van Gaal als Bondscoach behalten wollen.

Dabei sind die Folgen der verpassten Teilnahme an der WM recht drastisch. »Niederlagen sind, ebenso wie Siege, ein Teil des Sports und deswegen geht es zu weit, in diesem Fall von einer Katastrophe zu sprechen Aber für den niederländischen Fußball ist dieses Ausscheiden eine schlechte Sache«, begann De Volkskrant eine lange Analyse der Folgeschäden.

Sie träfen die Niederlande doppelt hart. Zum einen, weil jetzt eine internationale Party versäumt werde, zum anderen weil die niederländische Liga »aus der internationalen Perspektive ständig an Glanz verliert. Der niederländische Fußball hätte die WM-Teilnahme gut gebrauchen können, um die Basis zu verstärken.«

Denn große sportliche Ereignisse und Erfolge führen in den meisten Ländern erfahrungsgemäß zu einem deutlichen Andrang von Kindern und Jugendlichen bei den Vereinen. Städte und Gemeinden werden so gezwungen, mehr Geld für Sportplätze und -hallen auszugeben; dies alles wird in den Niederlanden nach der WM nun nicht passieren. Dabei stehen mehr und bessere Sportstätten oben auf der Wunschliste der Niederländer. In »De sociale staat van Nederland«, einer Untersuchung, die vom Social en Cultureel Planbureau, SCP, am Mittwoch letzter Woche herausgegeben wurde, zeigte sich die Mehrheit der Niederländer sehr zufrieden mit ihren Lebensumständen. Zu den wenigen Punkten, die beanstandet wurden, gehören die mangelnden Möglichkeiten, außerhalb der großen Städte Sport zu treiben.

Auch der finanzielle Schaden wird als »sehr groß« eingeschätzt. Lediglich die Stichting Namaakbestrijding, die gefälschte Markenprodukte aufspürt und nach eigenen Angaben während der Europameisterschaft im letzten Jahr »noch alle Hände voll zu tun hatte mit Betrieben, die ohne Lizenz das Logo des Niederländischen Fußballverbandes KNVB benutzten«, kann das Ausscheiden gelassen betrachten. Denn nun, so ihr Direktor Ronald Brohm in Het Parool, werde man einen ruhigen Sommer 2002 verleben: »Der Himmel wird nicht mehr oranje gefärbt sein. Es wird kein Cent zu verdienen sein. Ohne Merchandising gibt es auch keine Markenpiraterie.«

Trotzdem finden es die offiziellen Trikotsponsoren des KNVB »niet leuk«, dass ihre Logos im nächsten Jahr nicht in der ganzen Welt zu sehen sein werden. Beim Hauptgeldgeber »Nationale-Niederlanden« gibt man sich jedoch betont gelassen. »Sport ist eben Gewinnen und Verlieren«, erklärte Pressesprecher Koos Woltjes. Man werde sich zwar »auf einer sachlichen Ebene mit dem Geschehenen befassen«, aber Partnerschaften müssten eben manchmal auch schwere Zeiten durchmachen.

Diese schweren Zeiten kommen nun auch auf andere Branchen zu. Auf Sportreisen spezialisierte Reiseveranstalter hatten sich in Japan und Korea bereits nach passenden Quartieren umgeschaut, jetzt werden alle Abschlüsse storniert. »Wie viel Geld er in Oranje bereits gesteckt hat, wie viel er mit Oranje hätte verdienen können, will keiner der Unternehmer sagen«, schreibt Het Parool. Einzig die Vermarktungsagentur de Ster ist bereit, den geschätzten Schaden in wenigstens einem Bereich zu beziffern. Dem Fernsehsender NOS, der für ungefähr 60 Millionen Gulden die TV-Rechte an der WM 2002 gekauft hat, werden mindestens zehn bis 15 Millionen an Werbeeinnahmen verloren gehen.

Wall Bake, der Leiter des Sportmarketings bei De Ster, erwartet zusätzlich, dass das Ausscheiden auch Folgen für den Ligawettbewerb, die Eredivisie, haben werde: »Anstelle einer A-Marke ist der niederländische Fußball eine B-Marke geworden. Das werden vor allem die Vereine noch sehr lange zu spüren bekommen.«

Nicht einmal beim folgenden Heimspiel gegen Estland ließen sich die niederländischen Fans und Reporter von ihrem Gleichmut abbringen. Das Team wurde angefeuert, als sei nichts gewesen. »Vorläufig noch keine Probleme für die niederländische Elf«, meldete der RTL5-Reporter Raymond Bouwman in der zweiten Minute erleichtert. Nur ganz kurz konnten er und die Nation noch hoffen - im Spiel Zypern gegen Portugal stand es zunächst 1:1 -, dann aber erzielten die Portugiesen den Führungstreffer, der alle Träume zerstörte. »Die einzige Hoffnung ist nun die, dass die Niederlande doch noch zugelassen werden, wie Dänemark, das 1992 den Platz von Jugoslawien einnehmen konnte. Aber da müsste man ja auf einen Krieg hoffen, und das geht wohl etwas zu weit.«

Und am Ende erlaubte man sich doch noch ein bisschen Trauer über die verpasste Qualifikation und zeigte selbst dabei Stil. Han Lips, Kolumnist von Het Parool, beschrieb seine Emotionen während des Spiels gegen Estland so: »Vielleicht kennen Sie das Gefühl. Sie fahren auf der Autobahn irgendwo in Frankreich, mitten in der Nacht, und eigentlich hätten Sie schon vor einer Stunde eine Pause einlegen müssen. Die anderen im Wagen schlafen, und Sie beinahe auch. Die Augenlider gehen nur noch langsam auf und zu. Es regnet. Ab und zu kommt auf der Gegenspur ein Auto vorbei. Die Scheinwerfer stechen in die Augen, zwar nur einen Moment lang, Sie sind jedoch sofort hellwach. Aber auch nur einen Moment lang. Im gleichen Zustand schaute ich mir das Spiel Niederlande gegen Estland an: Die Höhepunkte gehen an mir vorbei wie die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens. Sie tun ein bisschen weh.«