Spinoza-Rezeption

Der Maledictus

Baruch Spinoza und einige jüdische Denker.

Im Jahr 1925 (anderswo heißt es: 1932) rief der Gelehrte Joseph Klausner vom Berg Skopus in Jerusalem: »Baruch, du bist unser Bruder, du bist unser Bruder, du bist unser Bruder!« Der Mann, dem diese freundliche Geste galt, der Philosoph Baruch d'Espinoza, besser bekannt unter seinem christianisierten Namen Benedictus de Spinoza, war am 27. Juli 1656 von der Jüdischen Gemeinde zu Amsterdam mit einem Bann belegt worden: »Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei sein Zubettgehen, verflucht sein Aufstehen, verflucht sei er beim Hinausgehen und verflucht beim Eintreten; möge der Herr ihm nicht verzeihen, sodass des Herrn Zorn und seine Eifersucht gegen diesen Menschen entbrennen.«

Den Bann zu heben, war nach Klausner Anliegen noch vieler Anhänger Spinozas unter den Juden, etwa des ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben Gurion. Es bezog seine Gründe aus der zionistischen Anschauung, dass das Judentum keine religiöse, sondern eine politische Einheit sei, ein - seit der Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus im Jahr 70 u.Z. - Staatsvolk ohne Staat, zusammengehalten allein durch den »Hass der Völker«, wie Spinoza im dritten Kapitel des »Tractatus Theologico-Politicus« schreibt. »Ja, wenn die Grundsätze ihrer Religion ihren Sinn nicht verweichlichen, so möchte ich ohne Weiteres glauben, dass sie einmal bei gegebener Gelegenheit, wie ja die menschlichen Dinge dem Wechsel unterworfen sind, ihr Reich wieder aufrichten und dass Gott sie von neuem auserwählt.« Dieser Einheit, diesem kommenden Reich, diesem entstehenden Staat gehöre der Philosoph, trotz seiner Ketzerei, noch immer an. Aber ist, um das zu bekräftigen, eine Aufhebung des religiösen Banns nötig?

»Die Spinozas sterben nicht aus«, bemerkt Emmanuel Lévinas in seinem Aufsatz »Le cas Spinoza« (1956) und: »Das Verfahren dauert seit 2 000 Jahren an.« Es gehe nicht um das Verfahren gegen den Philosophen, sondern um das gegen das Judentum, in dem Spinoza nur ein kleiner, wenn auch gewichtiger antijüdischer Advokat war. Nicht der Rationalismus sei der Feind des jüdischen Denkens, sondern die Säkularisierung, die nichts anderes meine als Christianisierung.

Es bedarf nur geringer Mühe, sich davon zu überzeugen, dass Lévinas Recht hat. Die deutsche Aufklärung etwa war sich über den Weg aus der Religion durchaus einig, er sollte über Protestantismus und Deismus in den moralisch gegründeten Atheismus führen. Nur der Protestantismus als reflektierter Monotheismus biete, so die allgemeine Auffassung, die Voraussetzung für eine sittliche Säkularisierung, und seine Werte und Vorstellungen von Menschenrecht und Humanität, die auf der lutherischen Theologie von lebendigem Wort und unmittelbarer Verbindung mit Gott ruhen, seine Metaphysik von Ich und Nation, seine Politik der paulinischen Gemeinschaft haften noch heute den scheinbar religionsfernsten Philosophemen an. Die Aufklärung vollendete die Christianisierung.

Und auch eine andere Gemeinsamkeit verbindet die religionsphilosophischen Vorstellungen der Aufklärer: Sie bestritten nicht nur, dass es eine jüdische Aufklärung geben könnte, sie erklärten das Ende der als atavistisch empfundenen jüdischen Kultur zur Voraussetzung eines geordneten Übergangs zu einer universalen Kirche. Nicht ohne Grund waren nicht nur die deutschen Aufklärer, sondern noch ihre rechten und linken Gefolgsleute im 19. Jahrhundert (Fichte, Feuerbach, Hegel, Marx) ohne Ausnahme Antisemiten. Man setzte sich vom bloß emotionalen Judenhass der Inquisition ab und begründete die Inferiorität der Juden soziologisch, geschichtsphilosophisch, theologisch. Selbst in der berühmten und heiß umkämpften Emanzipationsschrift des Kriegsrats Dohm, »Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden« (1783), finden sich antisemitische Argumente zuhauf. Es geschah nicht selten, dass einer (ich denke etwa an Kant) die rechtliche Gleichstellung der Juden und zugleich ihren Untergang wünschte, ja, all das besaß eine Logik.

Aber war diese Logik auch Spinozas Logik? Zwar gab er klar zu erkennen, dass er, wenn auch nicht die christliche Kirche, so doch die christliche Lehre für vernünftiger als die jüdische hielt, doch machte er keine Anstalten zu konvertieren. Mehr ins Gewicht fällt, dass er die Juden im Stich ließ, als sie sich in einer höchst bedrohlichen Situation befanden. Heinrich Graetz unterstellt in seiner »Volkstümlichen Geschichte der Juden« (1907) sogar, Spinoza habe die »Scheiterhaufen der Inquisition«, vor denen des Philosophen Familie aus Portugal geflohen war, »gerechtfertigt, weil Bürger kein Recht haben, sich der anerkannten Staatsreligion zu widersetzen, und weil es eine Torheit sei, das Judentum zu bekennen und sich dafür noch zu opfern«. (Dem 19. Kapitel des »Tractatus Theologico-Politicus« zufolge steht das »Recht in geistlichen Dingen völlig den höchsten Gewalten« zu, das betrifft freilich nur den »äußeren Gottesdienst«, nicht die private Gesinnung, und Spinozas Angehörige waren Marranen, Getaufte, die insgeheim weiterhin die jüdischen Bräuche pflegten.)

Dagegen zeigte sich der Vorkämpfer einer jüdischen Reformation, Saul Ascher, in seinem »Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums« (1792) überzeugt, dass Spinoza sich »des Judenthums, weil er es besser als jede andere Religion kannte, bloß als eines Mittels bediente, um aller Religion einen Stoß zu geben«. Spinozas radikale Kritik des jüdischen Glaubens - seine Verneinung der Offenbarung, der Auserwähltheit und des personalen Gottes - sei also nicht antijüdisch, sondern antireligiös motiviert gewesen. Diese Vermutung über die Intention des Autors hat viel für sich, aber wann haben je die Intentionen eines Autors gezählt?

Wie zum Zeichen dafür, dass es Mächte gibt, die stärker sind als die Meinung eines Mannes, und dass zu ihnen der den europäischen Geist von jeher durchsetzende Antijudaismus zählt, erschien bereits im Jahr 1699, also 22 Jahre nach des Philosophen Tod, eine Schrift, die die Ketzerei des exkommunizierten und gebannten Juden Spinoza als die eines Juden anprangert. Johann Georg Wachter, ein Privatgelehrter und Freidenker, der seine späten Jahre als Sinnspruch-Erdichter am preußischen Hof zubrachte, schreibt in »Der Spinozismus im Jüdenthumb Oder die von dem heütigen Jüdenthumb und dessen Geheimen Kabbala Vergötterte Welt«, die spinozistische Philosophie, die die Welt vergöttlichte, um Gott loszuwerden, leite sich von der jüdischen Religion, insbesondere ihrer Mystik, diesem »elenden Jüden-Stoff«, her, sei wie dieser selbst »contradictorischer Quarck« und überhaupt »pure Atheisterey«. Der »protestantische Jude« (Graetz) Benedictus de Spinoza war ein maledictus aller Konfessionen.

Wachters Pamphlet wurde noch in der Hochzeit der deutschen Aufklärung viel gelesen und war Waffe im so genannten Spinoza-Streit. Der angesehene Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi behauptete damals, Gotthold Ephraim Lessing habe sich am Ende seines Lebens ihm gegenüber als Spinozist, also als Atheist, bekannt. Dass sich diese Behauptung nicht allein gegen Lessing, sondern vor allem gegen Lessings engen Freund, den jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn, richtete, erhellt u.a. aus einem Punkt der Jacobischen Anklageschrift, der seine Abhängigkeit von Wachter beweist: »Die Cabalistische Philosophie, so viel davon der Untersuchung offen liegt, und nach ihren besten Commentatoren, von Helmont dem Jüngeren, und Wachter, ist, als Philosophie, nichts anders, als unentwickelter, oder neu verworrener Spinozismus.« (F.H. Jacobi, »Schriften zum Spinozastreit«, 2 Bde., 1998)

Das soll besagen: Spinozismus ist nicht nur Unterhöhlung der christlichen Weltanschauung, sondern vor allem Judenwerk. Mendelssohn verteidigte den Freund und sich gegen den Vorwurf; ein harter und einsamer Kampf, der den durch frühere Auseinandersetzungen mit schwärmerischen Judenmissionaren wie Johann Caspar Lavater und aufgeklärten Gelehrten wie Johann David Michaelis bereits entkräfteten Philosophen schließlich das Leben kostete. Beteiligt an der aufklärerischen Hetzjagd auf den Juden war übrigens auch ein erklärter Spinozist, der Anführer der radikalen Aufklärung, Johann Heinrich Schulz, ein früherer evangelischer Dorfpfarrer (»Der entlarvte Moses Mendelssohn«, 1786). Die Kryptospinozisten Goethe und Herder stellten sich, wenn auch viel diskreter, ebenfalls gegen ihn.

Umso merkwürdiger, dass Mendelssohn in seinem Hauptwerk »Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum« (1783) selbst über weite Passagen, doch ohne ihn zu erwähnen, Spinoza folgt. Mendelssohns und Spinozas Argumente, deren frappierende Übereinstimmung Julius Guttmann als Erster herausgearbeitet hat, werden in Ze'ev Levys gerade erschienenem Buch »Baruch Spinoza - Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland« noch einmal nebeneinander gestellt.

Für Levy ist Mendelssohn der erste jüdische Denker, der den über Spinoza verhängten Bann brach. »Es ist bemerkenswert, dass er trotz seiner heftigen Gegnerschaft zu Spinozas Pantheismus eine mehr oder weniger unvoreingenommene Stellung zu ihm einnahm.« Levy folgt der weiteren Rezeption Spinozas in der jüdischen Welt umsichtig, zeigt die Bewunderung für den frühen Aufklärer etwa bei Salomon Maimon und Heinrich Heine ebenso wie seine Verkitschung bei Berthold Auerbach, die scharfe Kritik von Seiten David Luzzattos und vor allem Hermann Cohens, das Werben für ihn bei Forschern und Übersetzern und seine stille Ablehnung bei Franz Rosenzweig.

Die jüdische Auseinandersetzung mit Spinoza lässt sich bündig zweiteilen: Während gläubige Juden seine Philosophie ablehnen oder höchstens, wie Martin Buber, die anregende Konfrontation mit ihr suchen, begrüßen sie säkulare Juden als Anstoß zur Verweltlichung. Aber es gibt auch Zwischenpositionen. Eine der interessantesten nimmt, neben Mendelssohn, Moses Hess ein. Der Revolutionär war ein leidenschaftlicher Anhänger Spinozas und übrigens einer der sehr wenigen Gelehrten in Deutschland, die Marxens infamen Aufsatz »Zur Judenfrage« öffentlich zurückwiesen. Während er zunächst von seiner Spinoza-Lektüre und durch die Verbindung mit Bruno Bauer und Karl Marx zu antijüdischen Ressentiments verleitet wurde, entwickelte er, vor allem nach 1860, eine zionistisch-sozialistische Lehre, die durch und durch spinozistisch konzipiert war.

Ohne gläubig zu sein, stellte er sich die religiös-kulturelle Entwicklung doch anders vor als seine aufgeklärten Mitstreiter: Wie Lessing sah er das Judentum als Fundament der Menschheitsentwicklung, darauf errichte sich das Christentum, aber nicht eine protestantisch geprägte Vernunftreligion oder ein urchristlicher Kommunismus solle den Abschluss bilden, sondern eine Art jüdischer Spinozismus, das »neue Jerusalem«, eine monistische Einheit von Staat und Kirche, »Endlichkeit und Ewigkeit«. Das ist eine andere Trinitätslehre und eine andere Dialektik als diejenige, die zu seiner Zeit im Schwange war, und Paul Lawrence Rose (»Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner«, 1990) merkt an, Hess habe die »Mentalität der Junghegelianer« als »überschwemmt von christlicher Gesinnung« erkannt. »Bauer und Konsorten schrieben, weit davon entfernt, der Menschheit revolutionäre Befreiung zu bringen, einfach ein weiteres Kapitel in der Geschichte der christlichen Theologie.«

Um Spinoza als »die höchste Manifestation des Judentums in der Neuzeit« hinzustellen, musste, wie Levy einwendet, Hess die Schriften des Verehrten überinterpretieren. Das ist vom philosophischen Standpunkt aus schwer zu bestreiten. Aber vielleicht ist der jahrhundertelange Streit um Spinoza viel weniger ein geistiger als ein politischer gewesen.

Dass Levys Buch nicht überzeugen kann, liegt nicht an seiner Unvollständigkeit; Saul Aschers Name wird z.B. nicht erwähnt. Es liegt auch nicht an seiner gelegentlichen Ungenauigkeit; Levy glaubt, Mendelssohn glaubte, Spinoza habe seine Erkenntnisse nicht auf die sichtbare Welt anwenden wollen - das Gegenteil ist der Fall. Dass das Buch nicht überzeugen kann, liegt vor allem daran, dass es den seit 2 000 Jahren andauernden Prozess, von dem Lévinas schreibt, die Allgegenwart des Antisemitismus, nicht genügend berücksichtigt.

Nur vor diesem alteuropäisch-christlichen Hintergrund ist zu verstehen, weshalb z.B. Heine einen Gedanken Spinozas dem von ihm verehrten Aufklärer Luther zuschreibt oder Hess dem Hep-Hep-Gehetze der Linken einen »welthistorischen Sabbath« entgegensetzt oder Mendelssohn es um jeden Preis vermeidet, Spinozas Namen zu nennen. Und nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, weshalb sich Mendelssohn überhaupt bei Spinoza bedient. Die Aufklärung der jüdischen Religion, in der kritischen Fortführung der rationalistischen Theologie des Maimonides, ist nur ein Grund für Mendelssohns Unternehmen. Der andere liegt in der Verteidigung der jüdischen Religion, ja des religiösen Denkens. Mendelssohn wendet Spinoza gegen die Säkularisierung, die eine Christianisierung ist.

Im Nachwort zur gerade erschienenen Neuausgabe von »Jerusalem« streicht David Martyn die sprachskeptische Argumentation Mendelssohns heraus: »In Jerusalem wird das Band zwischen Zeichen und Bedeutung, Signifikant und Signifikat als ein äußerst unzuverlässiges charakterisiert.« Mendelssohn folgert aus der prinzipiellen Unbestimmbarkeit und Unhintergehbarkeit der Zeichen, dass die »inern Empfindungen« nicht vollständig und nicht ohne Schwierigkeit, schon gar nicht über zeitlichen und kulturellen Abstand hinweg, mitzuteilen und deshalb die religiösen Empfindungen nicht zu kodifizieren seien. Festgehalten und tradiert werden könnten nur Rituale und Gesetze.

Lévinas hat in einem zweiten Spinoza-Aufsatz, »Avez-vous relu Baruch?« (1966), bemerkt, Mendelssohns berühmte Formel aus »Jerusalem«, Judentum sei offenbartes Gesetz, leite sich direkt von Spinoza her. Von Spinoza abhängig ist aber auch Mendelssohns sprachphilosophische Konzeption. Es ist daran zu erinnern, dass Spinozas Bibelkritik selbst sprachskeptische Figuren verwendet: »Wie, wenn Gott z.B. den Israeliten gesagt hätte: 'Ich bin Jehova, Euer Gott', so mussten sie vorher schon ohne die Worte gewusst haben, dass er Gott wäre, ehe sie versichert sein konnten, dass er es war (...) und so halten wir es für unmöglich, dass Gott sich durch irgendein äußeres Zeichen den Menschen kund tun könne.« (»Traktat von Gott, dem Menschen und seiner Glückseligkeit«) Gibt es keinen Begriff für Gott, kann seine Offenbarung nicht verstanden werden, gibt es aber einen, ist die Offenbarung überflüssig. Ganz genauso argumentiert Mendelssohn in »Jerusalem«: »(Wen) sollte die Donnerstimme und der Posaunenklang von jenen ewigen Heilslehren überführen? Sicherlich den gedankenlosen Thiermenschen nicht, den seine eigene Betrachtung noch nicht auf das Daseyn eines unsichtbaren Wesens geführt hat, das dieses Sichtbare regieret.«

Der Unterschied scheint offensichtlich: Zwar wollen sowohl Spinoza als auch Mendelssohn der biblischen Offenbarung nur noch historischen oder zeremoniellen Wert zumessen - »offenbartes Gesetz« -, aber Mendelssohn fordert zugleich ein Recht auf das, was keine unmittelbare sprachliche Offenbarung hervorbringen, berühren, geschweige verändern kann - die »inern Empfindungen«, die verinnerlichte Religion.

Aber ist dieser Gedanke Spinoza, der so energisch darauf bestand, dass privatim, also jenseits der Macht des Staates, jeder denken und fühlen könne, wie er wolle, völlig fremd? In seinem zweiten Spinoza-Aufsatz verweist Lévinas darauf, dass Spinozas Bibelkritik zuallererst eine Lektüre sei. Spinoza schreibt im siebten Kapitel des »Tractatus Theologico-Politicus«, dass »die höchste Autorität der Schriftauslegung jedem einzelnen zusteht«, warnt im 12. davor, »Zeichen und Bilder, nämlich das Papier und die Tinte, statt Gottes Wort zu verehren«, und stellt im 13. fest, Gott habe »nichts anderes von den Menschen gefordert als die Erkenntnis seiner göttlichen Gerechtigkeit und Liebe, eine Erkenntnis, die nicht zur Wissenschaft, sondern nur zum Gehorsam nötig ist«.

Lévinas kommentiert: »Es gibt eine Weise, die Bibel zu lesen, die sich darauf zurückbesinnt, Gottes Wort zu hören. Diese Lektüre bleibt unersetzlich, trotz des Vorrechts der Philosophie (sprich des Spinozismus). Mittels der verschiedenen Autoren, welche die historische Methode als Verfasser der Heiligen Schriften entdeckt, lädt Gottes Wort die Menschen dazu ein, den Weisungen der Gerechtigkeit und Liebe zu gehorchen. Spinoza lehrt durch die historische Kritik der Bibel ihre ethische Verinnerlichung.«

Die Dekonstruktion der Bibel konzentriert auf das Wesentliche in ihr, das sich nicht zerstreut in historischen Zufällen und das sich dem suchenden Leser eröffnet. In Lévinas' versöhnlicheren Bemerkungen über Spinoza deutet sich an, dass gerade in der Bibelkritik dieses Denkers, der doch der christlichen Anschauung so freundlich und der jüdischen so feindlich gegenüberstand, ein Grund jüdischen Denkens noch immer spürbar ist: das schwierige, ja unmögliche Gespräch zwischen Gott und Mensch, das Modell ist für alles Gespräch.

Dem gegenüber steht die christliche, insbesondere die lutherische Sprachphilosophie vom Gespräch zwischen Menschensohn und Mensch, d.h. zwischen Gleich und Gleich. Die gesamte allzu leichtfertige, allzu schlichte Sprachphilosophie vom aufgeklärten Gespräch als einer Überzeugung mit Argumenten, als eines fast unproblematischen Austausches, die sich noch in den scheinbar völlig säkularen Kommunikationstheorien eines Habermas oder eines Luhmann niederschlägt, beruht hierauf. All das ist noch immer christliches Denken.

Jüdisches Denken kennt dagegen auch die Begegnung mit einem tauben Gott, die Erfahrung des Rufens ins Nichts, kurz die kommunikative Defizienz und Inkommensurabilität. Das war es, was Mendelssohn bei Spinoza gelesen hat und was am Ende auch Lévinas bei ihm gelesen hat. Vielleicht, schließt Lévinas, gibt es doch zwei Seiten in Spinozas Bibelexegese, die historische Kritik und die Härte der Schrift. »Beginnt nicht die Philosophie aus ihr hervorzuquellen wie aus einem erratischen Felsen?«

Ze'ev Levy: Baruch Spinoza - Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland. W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 2001, 333 S., DM 48,90 (Euro 25)

Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum. Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden«. Nach den Erstausgaben neu ediert von David Martyn. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001, 171 S., DM 29,80 (Euro 15,50)