»Die Affäre Semmeling«

Die Rache der Erben

Dieter Wedels Mehrteiler »Die Affäre Semmeling« wird dem Bund der deutschen Steuerzahler sehr gefallen.

Ende Dezember, Anfang Januar ist die Zeit der großen Familien-Sagas und Mehrteiler, und einen festen Platz zu Beginn des Jahres hat Dieter Wedel gebucht. »Der große Bellheim«, »Der Schattenmann« waren großartige und großartig platzierte Fernsehromane, die einen Folge um Folge ins neue Jahr trugen. Im Januar 1998 dann die Enttäuschung, der sechsteilige »König von St. Pauli« war ein in glitischige Sozialkritik eingewickeltes Ganovenstück über die Zerstörung von Kiezgemütlichkeit und Schwiemelerotik. Dialoge wie »Wer will Würfel-Rudi von der Speisekarte streichen?« vergisst man nicht. Vielleicht lag es einfach daran, dass Wedel für diese Produktion ausnahmsweise zu Sat.1 gegangen war.

Alles auf Anfang: Mit seinem neuen Projekt ist Wedel nicht nur zurück im ZDF, sondern ist ganz weit zurückgegangen, nämlich zu seiner in den siebziger Jahren für die ARD entwickelten Fernsehfamilie Semmeling, die sich tief in die Alltagsgeschichte der Zuschauer einschreiben konnte. In der »Affäre Semmeling« taucht es wieder auf, das anrührende Loser-Ehepaar Trude und Bruno Semmeling, das, völlig überfordert vom modernen Leben, daran teilzuhaben versucht.

Modern waren damals Hausbauen und Skiurlaub. Skiurlaub war sogar mondän. Die Semmelings (Antje Hagen und Fritz Lichtenhahn) haben sich bei beiden Projekten übernommen, und dabei spielten sich tolle Szenen ab. Beim Urlaub in den Bergen waren sie falsch angezogen, kriegten natürlich das schlechteste Hotelzimmer und wurden von jedem Kellner nach Strich und Faden verarscht; beim Hausbau waren sie Opfer von Handwerker-Terror und Banker-Arroganz. Eigentlich brauchte es keine großen Intrigen, um diese Familie an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu katapultieren. Bereits eine Fahrt mit der Bundesbahn konnte katastrophische Ausmaße annehmen. Immer waren die Semmelings verwirrt, desorientiert, arglos, kapierten nicht oder zu spät, was gerade lief, und bemühten sich doch mitzuspielen. Mit »Einmal im Leben« und »Alle Jahre wieder« drehte Wedel den kollektiven Super-8-Film der Siebziger. Das Spießige wurde nicht gnadenlos auseinander genommen wie bei Wolfgang Menge, sondern mit anrührender Komik vorgeführt. Dabei wirkten Figuren und Umgebung ziemlich echt, und der blasse, rothaarige Bruno mit dem ängstlichen Kinderblick war eine Art Woody Allen im Vati-Kostüm, wie ihn das deutsche Fernsehen verdiente.

Jetzt ist das Finanzamt die böse und undurchsichtige Gegenmacht, die den inzwischen kurz vor der Rente stehenden Semmeling fertig machen will. Auf das Thema Steuerprobleme ist Dieter Wedel durch seinen Freund Günter Strack gekommen. Dessen Haus war bei Umbauarbeiten plötzlich zusammengestürzt, der Neuaufbau ein Riesenakt, teuer, nervenzerrend, und dann stand plötzlich das Finanzamt vor der Tür, verlangte Nachzahlungen, und Strack musste zahlen und zahlen, bis er, so Wedel, »vor einem bedrohlichen wirtschaftlichen Engpass« stand. Der dicke Strack ist tot, die Semmelings leben.

Was als Steuerproblem des Hamburger Eigenheimbesitzers Semmeling beginnt, wächst sich über sechs Folgen zu einer Staatsaffäre aus. Das Haus steht auf dem Spiel, und Sohn Sigi fällt die Rolle zu, das von seinen Eltern vor 30 Jahren mühsam erworbene Eigentum zu retten. Eben noch ein kleiner Studienrat, macht er binnen kurzem Karriere in der Landespolitik, gerät in den Sog von Macht und Geld und lässt sich mit einem eiskalt-windigen Darlehensgeber ein, um für das Haus der Eltern die Bürgschaft übernehmen zu können. Zwar ist Sigi, gespielt vom »Schattenmann«-Protagonisten Stefan Kurt, ein echter Semmeling - entschlossen, es zu etwas zu bringen, zugleich hilfsbereit, skrupulös und verletzlich -, aber die im Hamburger Polit- und Wirtschaftsmilieu spielende Geschichte ist keine Semmeling-Geschichte mehr. Dazu ist sie viel zu wuchtig und voluminös, und es scheint, als schwebe über allem der unselige Geist des TV-Staatsschauspielers und Rächers der Erben namens Günter Strack.

Schon in der ersten Folge wird ruckzuck ein riesiges Gesellschaftspanorama aufgespannt, und man weiß gleich, dass in diesem Staat mächtig was faul ist. Das hat Wedel aufwändig recherchiert. Zu seinen »Informanten« - die Presseunterlagen schreiben tatsächlich »Informanten« - gehören neben Lore und Günter Strack (»Informanten Hausbau-/Finanzamt«) auch Doris und Gerhard Schröder (»Informanten Politik«) sowie Jürgen W. Möllemann, Björn Engholm, Bodo Hombach, Helmut Markwort und viele andere prominente Wirtschaftsexperten, deren Namen auf einer dreiseitigen Liste nachzulesen sind.

Über dem flächendeckenden Skandal des deutschen Steuerwesens, das den besseren Mittelstand bedroht, vergisst Wedel dann leider das Beste: seine Figuren. Vor lauter Gesellschaftspanorama sieht man sie kaum mehr. Obwohl mal wieder der ganze Wedel-Clan aufgeboten wird; Mario Adorf, Heinz Hoenig, Heiner Lauterbach, Mara Maranow, Sonja Kirchberger sind wie immer untergekommen und spielen wie auf Kommando. Die wunderbare Ausnahme macht Heike Makatsch als Silke Semmeling. Sie ist zuerst die liebende, dann die vernachlässigte und schließlich die untreue Frau von Sigi. Heike Makatsch ist in der schwierigen Rolle als Lehrerin, Ehefrau, Grünenmitglied und Geliebte des Bürgermeisters umso mehr zu loben, als sie sechs Folgen lang mit echten Dr. Dieter Wedel-Sätzen konfrontiert wird: »Die Fundis machen mal wieder Ärger.« Das erklärt ihr eine Grüne am Rande einer Parteisitzung.

Wie die Leute sprechen, hat Wedel nicht recherchiert. Wie sie sich kleiden, auch nicht, und deshalb sind Grüne bei ihm stämmige Frauen nach 45, die lediglich aus bunten flattrigen Schals und Haaren bestehen. Und wie sieht es aus, wenn Ausländer deutsche Frauen anmachen? Auch das hat Wedel nicht in Erfahrung gebracht oder hatte die falschen Informanten. Deshalb müssen dunkle Lederjackentypen ganz mechanisch nach einer brav ihr Fahrrad über den Bürgersteig schiebenden Makatsch schnappen.

Von detailversessener Recherche und Produktion ist wenig spürbar, die neuen Semmelings handeln vor allem davon, dass man weiß, wie es läuft, in der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft. Und wie läuft es? Wie am Wedel-Schnürchen. Dem Bund der Steuerzahler wird das gefallen.

»Die Affäre Semmeling«, ZDF, 2., 4., 7., 9., 12. und 14. Januar, jeweils 20.15 Uhr