Ökonomische Krise

Breakdown auf Raten

Kaum im Amt, steht die argentinische Regierung unter Druck. Die sozialen Proteste mehren sich, die internationalen Investoren stoßen unverhohlene Drohungen aus.

Sofort waren sie wieder da. Auf der Plaza de Mayo von Buenos Aires klapperten Tausende mit ihren Kochtöpfen, in den Straßen der argentinischen Hauptstadt zerstörten Demonstranten Banken, Restaurants und Geschäfte, in Cordoba lieferten sich Arbeiter Scharmützel mit der Polizei. Die vage Hoffnung, dass die neue Regierung des Peronisten Eduardo Duhalde das ökonomische Fiasko des Landes in den Griff bekommt, ist schon nach wenigen Tagen verflogen. Argentinien bleibt in Aufruhr. Spätestens seitdem der Wirtschaftsminister Jorge Remes Lenicov in der vergangenen Woche die neuen Regelungen zur Auszahlung von Geld bekanntgab, ging nichts mehr.

Dabei hatte sich der Politiker alle Mühe gegeben. Ruhig, mit geradezu religiös anmutendem Tonfall trat er im argentinischen Fernsehen vor die Kamera. »Im vergangenen Jahr wurden fast 20 Milliarden Dollar außer Landes gebracht, das entspricht etwa der Hälfte des nationalen Haushalts«, erklärte der Minister seinem Publikum. »Die Banken können von den Konten der Sparer nichts auszahlen, weil sie das Geld nicht haben.«

Dennoch dürfen die Argentinier künftig etwas mehr abheben als bisher. Seit der ehemalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo Anfang Dezember die ersten Maßnahmen in Kraft treten ließ, konnten sie lediglich 250 Pesos pro Woche von ihren Konten holen. Künftig, so ließ Cavallos Nachfolger Lenicov wissen, wird diese Summe auf 1 500 Pesos pro Monat erhöht, vorausgesetzt, das Geld stammt aus einem festen Einkommen. Reine Sparkonten dürfen um 1 200 Pesos monatlich erleichtert werden.

Ein schwacher Trost, denn diese Summen reichen kaum zum Überleben. Vor allem aber eine zweite Entscheidung trieb die Argentinier erneut auf die Straße. Fast sämtliche Dollarkonten werden bis zum März 2003 gesperrt. Wer mehr als 3 000 Dollar angelegt hat, muss auf sein Geld verzichten. Damit werden zahlreiche Familien in den Ruin getrieben, die auf Dollarkonten Abfindungen oder Erlöse aus Immobilienverkäufen gelagert haben, um in Zeiten der Arbeitslosigkeit zu überleben. Wie lange das Geld tatsächlich konfisziert bleibt, weiß heute niemand. Lenicov zeichnete jedenfalls ein hoffnungsloses Bild: »Die Leute können ihr ganzes Geld von den Banken holen, dann brechen die Banken zusammen. Oder die Banken können alle Schulden von den kleinen Unternehmen eintreiben, dann brechen eben die Unternehmen zusammen.«

Doch schon bevor der Minister seine Entscheidungen bekannt gab, hatte sich die Situation zugespitzt. Nachdem Staatschef Eduardo Duhalde vor knapp zwei Wochen im Rahmen seines Notstandsprogramms die jetzt in Kraft getretenene Abwertung des Peso angekündigt hatte, lag das Wirtschaftsleben brach. Niemand verkaufte mehr Vieh oder Getreide, für Grundnahrungsmittel mussten die Argentinier bis zu 60 Prozent mehr bezahlen. Dabei warten Millionen von Angestellten und Arbeitern ohnehin seit Monaten auf ihren Lohn.

Entsprechend unruhig war es schon vor den Eskalationen vom Wochenende. Diabetiker versammelten sich vor der Casa Rosada, dem argentinischen Regierungssitz, und forderten die Verteilung von Insulin, da Pharma-Unternehmen die Arznei zurückhielten, um die Entwicklung des Dollarkurses abzuwarten. Vor der italienischen und der spanischen Botschaft warteten viele Menschen auf ein Visum. Andere suchten die Konfrontation. »Wenn die Banken zusammenbrechen müssen, dann sollen sie eben zusammenbrechen, aber sie können nicht die Leute verarschen«, riefen Demonstranten auf den Straßen von Buenos Aires.

Keine zwei Wochen im Amt, steht Duhaldes Regierung bereits unter doppeltem Druck. Denn während die Polizei alle Mühe hat, die Situation unter Kontrolle zu behalten, nehmen auch die Drohungen internationaler Investoren zu. So kündigte das US-amerikanische Automobilunternehmen Ford an, demnächst 35 000, also zehn Prozent seiner Arbeitsplätze abzubauen. Die französische Télécom und die spanische Telefónica, Betreiberinnen des argentinischen Telefonnetzes, erhöhten ihre Preise vor der rund 40prozentigen Peso-Abwertung um ein knappes Drittel.

Der Banco Santander ließ wissen, wegen Duhaldes Notprogramm sei es für das spanische Geldinstitut finanziell günstiger, das Land zu verlassen, als zu bleiben und 500 Millionen Dollar zu verlieren. Der Grund sei die so genannte Pesificación, also der Regierungsplan, nach der Pesoabwertung alle Dollarkredite unter 100 000 Dollar eins zu eins in die Landeswährung umzutauschen, um kleinere Unternehmen vor dem kompletten Zusammenbruch zu retten.

Solche und andere Maßnahmen, wie etwa die Einführung einer Steuer auf exportiertes Erdöl, kamen bei der Europäischen Union schlecht an. Es wäre eine »Tragödie«, wenn Argentinien eine protektionistische Politik betriebe, ließ EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wissen. Und Spaniens Regierungschef José Maria Aznar bekräftigte in der vergangenen Woche seine Ablehnung von Duhaldes Weg, der insbesondere spanische Unternehmen schädige. Auf Druck Madrids ließ sich Duhaldes Regierung auf einen schlechten Deal ein. Die Erdölunternehmen gewähren Argentinen ein Darlehen von 1,5 Milliarden Dollar, um die durch die Pesificación verursachten Verluste der Banken zu kompensieren.

Dass die EU-Staaten wenig Interesse an protektionistischen Maßnahmen haben, liegt nahe. Schließlich ist die EU der größte Handelspartner des Mercosur, des Freihandelsblocks, der von Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay gebildet wird. Und im Gegensatz zum ehemaligen Minister Cavallo legt die neue Regierung Argentiniens großen Wert auf eine Stärkung des Bündnisses. »Die Probleme des Mercosur«, erklärte Außenminister Carlos Ruckauf, »lösen sich nur mit mehr Mercosur« - eine Botschaft, die beim brasilianischen Nachbarn gut ankam.

Und so zeigte sich zunächst auch nur Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso bereit, Argentinien einen Kredit zu gewähren. Für die Peso-Abwertung bekam Duhalde von seinem Kollegen große Unterstützung. Auch in Brasilien wurde die heimische Währung vor zwei Jahren vom Dollar abgekoppelt und hat seitdem an Wert verloren. Die jetzige »Angleichung« dürfte den Handel zwischen den beiden Großen des Mercosur beleben.

In Washington sieht man solche Annäherungen ungern. Cardoso betont die Eigenständigkeit des südamerikanischen Kontinents. Der von den USA anvisierten Free Trade Area of the Americas (FTAA), einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland, steht er skeptisch gegenüber. Entsprechend verhalten reagierte US-Präsident George W. Bush auf Duhaldes Politik, zumal die EU mit ihrer Nähe zum Mercosur ein starker Konkurrent der FTAA ist. Kreditanfragen wurden also zurückgewiesen. Bushs Vorgänger William Clinton hatte hingegen schnell ein Darlehen von 50 Milliarden Dollar gewährt, als es 1995 galt, Mexiko während der Peso-Krise vor dem Zusammenbruch zu retten.

Ein neuer Kurs der US-Regierung? Die New York Times zitiert Mitglieder der Bush-Administration, man sei nicht bereit, weiterhin die »finanzielle Feuerwehr« zu spielen. Und Bernard Aronson, ein hoher Funktionär aus den Zeiten von Bushs Vater, erklärte der mexikanischen Tageszeitung La Jornada: »Die Philosophie der jetzigen Regierung glaubt nicht an Rettungsmanöver, sondern an die Kräfte des Marktes.« Doch im Vergleich zur mexikanischen Peso-Krise bringt er auch andere Gründe ins Spiel. »Um ehrlich zu sein«, so Aronson, »Argentinien hat keine 2 000 Kilometer lange Grenze zu den USA, und das, was dort passiert, berührt die Staaten lange nicht so wie die Migration. Außerdem ist es nicht unser zweitgrößter Handelspartner.«

Tatsächlich sind die Interessen US-amerikanischer Firmen in Argentinien geringer als die europäischer Unternehmen, und die EU-Staaten geben sich alle Mühe, ihre Macht zu stärken. Dennoch ist man sich bislang einig, zumindest nach außen. So bezeichneten die G 7-Staaten (USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada) Duhaldes Wirtschaftsplan in einer Erklärung als »chaotisch«. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) will vorerst kein Geld zur Verfügung stellen. Neue Kredite werde es erst geben, so der deutsche Direktor des IWF, Horst Köhler, wenn ein stimmiges Sanierungskonzept vorliege.