Debatte um den deutschen Physiker Werner Heisenberg

Total formal

In der aktuellen Debatte um Werner Heisenberg geht es vor allem um Sympathie und Antipathie. Aber welche Moral reklamierte der Physiker für sich selbst?

Einen solchen Helden konnte Nachkriegsdeutschland gebrauchen. Der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg repräsentierte deutsche Wissenschaft und Kultur, war im Lande geblieben und hatte doch Widerstand geleistet. Die Vorlage für dieses Heldenbild lieferte 1956 Robert Jungk in seinem Buch »Heller als tausend Sonnen«. Er behauptet, »die in einer säbelrasselnden Diktatur lebenden deutschen Kernphysiker« hätten, »der Stimme ihres Gewissens folgend«, den Bau von Atombomben vereiteln wollen. Heisenberg, führender Kopf der deutschen Atomforschung, habe nicht nur versucht, die deutsche Atombombe zu verhindern, sondern mit einem Besuch bei Niels Bohr in Kopenhagen gleich die alliierte dazu. 1941 habe er seinem dänischen Lehrer und Freund vorschlagen wollen, alle Physiker der Welt zu überzeugen, keine Atombomben zu entwickeln. Tragischerweise habe Bohr Heisenbergs Andeutungen völlig missverstanden.

Bohr war über diese Darstellung so erbost, dass er einen Brief an Heisenberg, mit dem er immer noch befreundet war, aufsetzte. »Ich bin sehr erstaunt zu sehen, wie sehr dein Gedächtnis dich getäuscht hat (...). Die Art deiner Andeutungen konnte bei mir nur den deutlichen Eindruck hinterlassen, unter deiner Leitung werde in Deutschland alles getan, um Atomwaffen zu entwickeln.« Bohr schickte seinen Brief nie ab. Heisenberg konnte in Deutschland weiter seinen guten Ruf als gescheiterter Verhinderer der weltweiten Atomrüstung genießen.

Anfang dieses Monats veröffentlichte das Niels-Bohr-Archiv diesen Brief und weitere Entwürfe von Bohr zum gleichen Thema. Seither spekulieren berufene Historiker und Feuilletonisten wieder über die Frage, warum Heisenberg 1941 ins besetzte Dänemark fuhr und mit Bohr über die Atombombe sprechen wollte. Hat Bohr ihn missverstanden und seine guten Absichten verkannt? Oder war Heisenberg 1941 von Deutschlands Sieg überzeugt und wollte von Bohr Informationen über den Stand der alliierten Kernforschung?

Dass Heisenberg der Saboteur des deutschen Atomprogramms war, als den ihn einige sehen wollten, war historisch schon vor der Veröffentlichung nicht haltbar. Und so unterscheiden sich die jetzigen Debattenbeiträge vor allem durch die Sympathie oder Antipathie, die sie Heisenberg entgegenbringen. Die einen glauben, er sei mit den Briefen endgültig als Lügner entlarvt. Seine Verteidiger dagegen wollen seine moralische Integrität retten, auch wenn sie eingestehen, der geniale Physiker habe sich in politischen Dingen wohl etwas ungeschickt angestellt. »Die richtige Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Wahren zum Souveränen hat (...) Werner Heisenberg (nicht) gefunden, der zweifellos um sie rang« (Dietmar Dath in der FAZ).

Aber um was genau hat er gerungen? Klären lassen sich Heisenbergs Motive des Jahres 1941 bei der bestehenden Quellenlage nicht, auch wenn in der Diskussion zahlreiche mehr oder weniger neue Details angeführt werden. Merkwürdigerweise geht aber kaum einer der Frage nach, welche Moral Heisenberg für sich reklamierte.

Für eine erste Antwort genügt hier ein Blick in seine Autobiographie von 1969. Will er seiner Ablehnung des Nationalsozialismus Ausdruck geben, spricht er von der »Einsicht, dass am Ende dieser Entwicklung nur eine totale Katastrophe für Deutschland stehen könnte«. Will Heisenberg erklären, warum er nicht auswanderte, fragt er: »Sollte man etwa ruhelos auf diesem Globus von einem Land zum anderen wandern, um den jeweils eintretenden sozialen Katastrophen zu entgehen? (...) Und hieß Auswandern nicht, unser Land kampflos einer Gruppe von besessenen Menschen zu überlassen, die seelisch aus dem Gleichgewicht geraten waren und die in ihrer Verwirrung Deutschland in ein unübersehbares Unheil stürzten?«

Sein »Widerstand« äußerte sich in einer an Taten nicht zu überprüfenden inneren Distanz zum NS. Sein Konzept für moralisches Handeln heißt »Überleben in Deutschland«. Auch als er vom Heereswaffenamt zur Entwicklung von Kernwaffen beordert wird, ändert sich daran nichts. Die Entscheidung, auszuwandern oder in Deutschland zu bleiben, sieht er als eine, bei der »man nur noch Unrecht tun kann«. Also kann er genauso gut in Deutschland bleiben. Nicht um aktiv zu sabotieren, nein, Heisenbergs Rezept lautet: »Inseln des Bestandes bilden und junge Leute sammeln und sie nach Möglichkeit lebendig durch die Katastrophe bringen, und dann nach dem Ende wieder neu aufbauen.« Retten will er den deutschen Physikernachwuchs, nicht etwa verfolgte Juden.

Die Vernichtung der europäischen Juden ist in seinen Erinnerungen - wie damals für die meisten Deutschen - kein Thema. Er erwähnt wohl das »bittere Unrecht«, das seinen jüdischen Kollegen geschehen war, die keine andere Wahl hatten als auszuwandern. Zu bedauern scheint er vor allem den Schaden, den ihr Weggang für die deutsche Forschung und für sein persönliches und berufliches Umfeld bedeutete. Seine politischen Äußerungen sind durchdrungen von der Sorge um Deutschland und seine Wissenschaft. Seine »moralischen« Überlegungen kreisen um die Frage, wie er Schaden von Deutschland abwenden könnte.

Egal, was Heisenberg 1941 in Kopenhagen wollte, allein die Haltung, die aus seinem Buch spricht, musste eine Verständigung mit seinem Kollegen und Freund unmöglich machen. Wie sollte der Däne und - in der Naziterminologie - Halbjude Bohr diese deutsch-patriotische Moral teilen? Bohr scheint das gespürt zu haben und versucht, Heisenberg in einem seiner Briefentwürfe darauf hinzuweisen, dass es um »eine entscheidende Frage für die Menschheit ging, bei der wir uns trotz unserer persönlichen Freundschaft als Repräsentanten zweier Lager, die sich in einem tödlichen Konflikt befanden, gegenüberstanden.«

Bei genauem Lesen von Heisenbergs Erinnerungen erweist sich, dass es viel Phantasie bedurfte, um in seine Darstellungen einen aktiven Widerstand hineinzulesen. Und gerade deshalb, weil er sich nicht als Widerstandskämpfer dargestellt hat, dürfte er im Nachkriegsdeutschland so gut angekommen sein. Er behauptet gar nicht, den Bau der deutschen Bombe verhindert oder verzögert zu haben, sondern dass es den Deutschen unter Kriegsbedingungen nicht möglich war, eine Atombombe herzustellen. Und er ist erleichtert, dass die »äußeren Umstände« den deutschen Physikern »die schwere moralische Entscheidung, ob sie Atombomben herstellen sollten, aus der Hand genommen« haben.

Folgt man Heisenbergs Aussagen, verhielt er sich kaum anders als viele Wehrmachtssoldaten, die auch nicht in die Partei eintraten, aber ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllten und Deserteure verachteten. Nur dass er zufällig nicht zu den Gebirgsjägern, sondern vom Heereswaffenamt zum Atombombenbau einberufen wurde. Was ihn tatsächlich von einem gewöhnlichen deutschen Mittäter unterschied, ist nicht seine Sondersituation als renommierter Wissenschaftler, sondern dass ihn die Nazis anfangs tatsächlich als Feind betrachteten.

1936 beschuldigte ihn der Völkische Beobachter, »die Grundhaltung der jüdischen Physik« zu vertreten. Im Sommer 1937 beschimpfte ihn das SS-Organ Das schwarze Korps als »weißen Juden«. Denn die Anhänger der »deutschen Physik« unter Führung des deutschen Nobelpreisträgers Philipp Lennard wollten die Berufung Heisenbergs auf den Lehrstuhl für theoretische Physik in München verhindern. Die von Einstein entwickelte Relativitätstheorie und die von Heisenberg mit ausgearbeitete Quantentheorie galten diesen deutschen Physikern als »jüdisch«, als reine Formalismen, denen kein Wahrheitsgehalt zukam. Heisenberg wurde von der Gestapo verhört. Seine Mutter intervenierte bei Himmlers Mutter, mit der sie schon lange bekannt war. Himmler rehabilitierte Heisenberg tatsächlich, weil man, so schrieb er an Reinhard Heydrich, diesen »guten Wissenschaftler (...) noch gut gebrauchen« könne.

Und tatsächlich, als es um die Entwicklung der Atombombe ging, konnte man auf Heisenberg zurückgreifen. Schließlich konnte die »deutsche« Physik die Kernspaltung nicht erklären. Dazu war nur die »jüdische« Physik in der Lage. Und ihr Vertreter Heisenberg stellte sich als erdverbundener heraus, als man es von einem theoretischen Formalisten erwartet hatte.