Der Gipfel der Verschiebung
Der Aufwand war groß, der Effekt umso geringer. 10 000 Polizisten wurden zum Schutz des EU-Gipfels in der südspanischen Stadt Sevilla aufgeboten. An den Grenzen wurden Globalisierungskritiker zurückgewiesen, die beiden portugiesischen Parlamentarier Francisco Louça und Miguel Portas vom Block der Linken (BE) bei ihrem Einreiseversuch mit Schlagstöcken traktiert. Bei Straßenkontrollen in ganz Spanien beschlagnahmten und zerstörten Polizeibeamte Transparente gegen den EU-Gipfel.
Schnellrichter standen in Sevilla bereit, alle Zufahrten in die Stadt waren blockiert, Durchlass gab es nur nach einer Ausweiskontrolle oder, wenn es den Uniformierten beliebte, überhaupt nicht. Die Demonstrationsroute war von den Behörden verlegt worden, damit sie nicht durch die historische Altstadt führte. Sogar »die Herstellung, der Verkauf oder der Transport von Benzin und Feuerwerkskörpern« blieben am Freitag und Samstag in Sevilla per Dekret untersagt.
Und dennoch hatte er sich in die Stadt geschlichen: ein deutscher »Hooligan«, so die spanische Tageszeitung El Mundo, der sich für Politik offensichtlich nicht interessierte. Untergebracht im selben Hause wie die hohen Delegationen, hatte er Gleichgesinnte um sich geschart. Während die Regierungschefs der EU-Staaten am Freitag beim Mittagessen über Grundsatzfragen debattierten, schallte sein lauter Ruf durch das Kongresszentrum: »Toooor!« Deutschland stolperte im Spiel gegen die USA ins Halbfinale der Weltmeisterschaft.
Und schon hatte der angereiste Hooligan geschickt den EU-Gipfel gestört. Sein Name: Gerhard Schröder. Seine Kumpane: Finanzminister Hans Eichel und Außenminister Joseph Fischer. Der grüne Minister soll bereits auf der Anreise nach Sevilla versichert haben, dass er bei den Weltmeisterschaften stets für Deutschland gewesen sei.
Drei Monate vor der Bundestagswahl mag diese fußballerische Offenbarung beim Wahlvolk gut ankommen, bei den Kollegen der anderen 14 EU-Staaten tat sie es nicht. Besonders nicht beim Gastgeber, dem spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar. Der Gipfel von Sevilla hatte der großartige Abschluss der sechsmonatigen EU-Präsidentschaft Spaniens werden sollen.
Bevor Dänemark Anfang nächster Woche die Nachfolge antritt, wollte die konservative Regierung Aznar schnell noch Akzente setzen: mit der Abschottung der Festung Europa und mit Sanktionen gegen Drittländer, die diese Politik nicht aktiv unterstützen. Die Agrarzuschüsse sollten geprüft und eventuell sogar abgeschafft werden, bevor die östlichen Beitrittskandidaten davon profitieren können. Und der Beitritt der Türkei sollte erörtert werden.
Das wegweisende Treffen der 15 Regierungschefs erwies sich letztlich nur als ein Verschiebegipfel, bei dem nicht viel mehr herauskam als der gemeinsame Wunsch nach Abschottung. Es sei »von entscheidender Bedeutung, dass die Migrationsströme nach Europa unter Kontrolle gehalten werden«, heißt es in der Abschlusserklärung. Wenige rein, viele raus - so die gemeinsame Position der Mitgliedsstaaten. Mit Rückführungsprogrammen will die EU bereits in der Union lebende Ausländer loswerden, und die politische Nötigung außereuropäischer Staaten soll verhindern, dass neue Migranten kommen.
Wer die Grenzen zu Europas Festung nicht abdichtet oder seine Staatsbürger nicht zurücknehmen möchte, dem drohen künftig Konsequenzen. Ginge es nach Italien, Großbritannien, Dänemark, Spanien, Österreich und Deutschland, dann könnten sogar Sanktionen möglich sein, die Sperrung der Entwicklungshilfe zum Beispiel.
Noch aber ist es in der Europäischen Union nicht so weit, dass alle Regierungen als Reaktion auf Wahlerfolge rechtsextremer Parteien gleich deren Forderungen übernehmen wollen. Frankreich, Belgien, Schweden und Finnland verlangeten nach einem »humanen« Ansatz. Mehrheitsfähig freilich war das nicht. Und so einigten sich die EU-Staaten auf einen Kompromiss, dessen »humane« Komponente darin besteht, das Wort Sanktionen zu vermeiden, sie allerdings trotzdem zu ermöglichen.
»Eine unzureichende Zusammenarbeit eines Landes könnte einer Intensivierung der Beziehungen zwischen dem betreffenden Land und der Union abträglich sein«, heißt es in dem verabschiedeten Beschluss. Die Union müsse dabei »alle geeigneten Instrumente im Rahmen der Außenbeziehungen« einsetzen, um Drittstaaten zur Kooperation zu bewegen. Die Achse der Hardliner wertete den vermeintlichen Kompromiss als Erfolg ihrer Linie. Bundeskanzler Schröder sah sich bestätigt und drohte anschließend den Herkunfts- und Drittländern offen mit Konsequenzen.
Die Verständigung auf die Abschottung nach außen ist wohl der einzige Erfolg, den Ministerpräsident Aznar beim Gipfel für sich verbuchen konnte. Schon vor dem Treffen in Sevilla wirkte die konservative Regierung alles andere als souverän. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften des Landes hatten ihr bereits den Auftakt vermiest. Ein Generalstreik legte am Tag vor dem Beginn des Gipfels das Land lahm, vor allem im Bereich des Verkehrs. Viele Züge und Flugzeuge blieben stehen, nur die gesetzlich vorgeschriebene Mindestversorgung wurde von den Gewerkschaften aufrechterhalten. Die Regierungschefs mussten sich folglich genau überlegen, wann und wie sie die Reise nach Sevilla antraten, die meisten kamen erst Freitag früh.
Für Aznar war es ein deutlicher Affront der Gewerkschaften. Just am Tag vor dem Gipfelbeginn mit einem Generalstreik gegen die Verschlechterung des Kündigungsschutzes und der Arbeitslosenhilfe zu protestieren, diene vor allem dazu, »dem Ansehen Spaniens in Europa« zu schaden, so Aznar. Na und, dachten sich wohl die Gewerkschaften und behielten den Termin bei. Für sie gibt es schließlich Schlimmeres als einen Generalstreik, der auch im Ausland wahrgenommen wird.
Auch die Globalisierungskritiker ergriffen die Gelegenheit, für ihre Anliegen zu demonstrieren. Sie mussten jedoch einsehen, dass auch mit den Massen, die sie mobilisieren können, auf Dauer wenig auszurichten ist. Die im Sozialforum Sevilla zusammengeschlossenen Initiatoren verwiesen stolz darauf, wie »friedlich« ihr Protest und wie »unnütz« das große Polizeiaufgebot gewesen sei. Die wenigen gewaltbereiten EU-Gegner seien schließlich aus dem Demozug ausgestoßen worden. Immerhin 250 000 Menschen sollen nach Angaben der Veranstalter an der Großdemonstration »für ein anderes Europa und eine demokratischere und gerechtere Welt« teilgenommen haben. Die Polizei sprach von 80 000 Teilnehmern.
»Kein Mensch ist illegal«, lautete eine der Hauptlosungen, die Solidarität mit etwa 400 hungerstreikenden Migranten in der Universität von Sevilla stand ganz oben auf der Liste der politischen Forderungen. Doch in einer solch großen Bewegung sind nicht alle einer Meinung. So feierte es ein Sprecher des Gegengipfels bereits als Erfolg, dass im EU-Beschluss zur Bekämpfung der Immigration das Wort »Sanktionen« nicht vorkommt.
So paradox es klingt: Diese Betonung eigener Friedfertigkeit und dieser Wille zur Reformpolitik muss vor allem die spanische Regierung geärgert haben. Seit mehr als einem Jahr versucht sie, Globalisierungskritiker unter den Generalverdacht des Terrorismus zu stellen. Beim Gipfel in Sevilla bot die baskische Terrororganisation Eta dazu eigentlich einen hervorragenden Anlass. Ihren Protest drückten die Separatisten mit fünf Bombenanschlägen in nur zwei Tage aus. Touristenhotels in Südspanien und ein Kaufhaus im Norden des Landes waren diesmal ihre Ziele. Insgesamt gab es dabei zwölf Verletzte.
Bei so viel demonstrativer Friedfertigkeit der Globalisierungskritiker scheint ein Zusammenhang jedoch schwer konstruierbar. Obwohl die Eta nicht isoliert ist. Während der Großdemo in Sevilla war auf einem Transparent in baskischer Sprache die Parole zu lesen: »Globale Intifada gegen den Kapitalismus«.