Mehr Abfall für alle
Der französische Ableger des internationalen Alternativmediums Indymedia hat kaum losgelegt, da scheint es mit der linken Informationsplattform auch schon wieder vorbei zu sein. Ende voriger Woche sprachen sich mehrere Betreiber für die vorläufige Schließung aus, nachdem ein Streit um die Bewertung des Nahost-Konflikts eskaliert war.
Begonnen hatte er am 7. Juni, als eine Administratorin mit dem Pseudonym »Massalia« einen Bildbeitrag als zweifelhaft einstufte. Das Foto, das von einer Presseagentur stammt und von einem Aktivisten gepostet worden war, zeigt einen als Palästinenser vorgestellten Mann. Die Bildlegende behauptet, israelische Soldaten hätten dem Mann mit einem Messer einen Davidstern und ein Hakenkreuz in die Haut geschnitten. Massalia meldete Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bildes an; die Agentur sei schon in der Vergangenheit negativ aufgefallen, und nachprüfbar sei die gegebene Information auch nicht.
Ein bisschen ließ sich dann doch recherchieren. Zumindest fand Massalia heraus, dass der Aktivist Khaled Amayreh, der das Foto auf die Website von Indymedia gestellt hatte, mit eigenen Texten im Web vertreten ist, und zwar mit einschlägigen. Khaled Amayreh, der für die Agentur Palestinian Times tätig ist, behauptet in einem Artikel, die Juden hätten sich im 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, »mit den Polytheisten vom (arabischen) Stamme der Quraisch verbündet, um den Propheten des Islam zu töten«.
Seitdem hegten sie einen unbändigen Groll gegen die muslimische Religion, und seit dem 11. September 2001 bliesen sie zur Hatz auf die Muslime, »wie es die Welt seit Nazideutschland nicht gesehen hat«. Die »zionistisch kontrollierte Presse« in den westlichen Ländern rufe dazu auf, Moslems zu töten. Doch »die Juden« hätten »die Verantwortung für ihre widerliche Dummheit selbst zu tragen«.
Wegen des penetranten Antisemitismus forderte Massalia, Indymedia solle sich von diesem Zuträger trennen, das strittige Foto löschen und alle Links zu Beiträgen von Khaled Amayreh entfernen. Nicht alle Moderatoren wollten diese Forderung unterstützen. Yannic Meerbergen, Protagonist von Indymedia-Belgien, nahm Amayreh in Schutz; er habe schließlich »nicht ganz Unrecht«. Eine weitere Aktivistin von Indymedia-Belgien sprang Amayreh bei. »Red Kitten«, die sich als libertäre Antifa versteht, mahnte zur »Vorsicht vor Gesinnungsprozessen. Die Zionisten zu kritisieren, selbst wenn man es auf heftige und überzogene Weise tut, macht aus jemandem keinen Rassisten (...). Verfallen wir nicht in die Selbstzensur, die sie einzurichten versuchen.«
Selbst ein Beitrag Khaled Ameyrehs, in dem »deutsche und israelische Konzentrationslager« gleichgesetzt wurden, erschien der belgischen Indymedia-Frau diskussionswürdig. »Man vergleicht die modernen Staatsverbrechen immer mit jenen der Nazis, die in unserer kollektiven Mythologie das höchste Übel auf Erden darstellen«, schrieb sie und schlug vor, zwischen Konzentrations- und Vernichtungslagern zu unterscheiden. Die einen habe es unter zahlreichen modernen Regimes gegeben und ihre Funktion im NS-Staat habe in »der maximalen Ausbeutung der Häftlinge zugunsten der Kriegswirtschaft und der deutschen Bourgeoisie« bestanden. »Nur die Vernichtungslager waren mit Gaskammern ausgestattet und waren (ihrerseits) ziemlich unproduktiv«, schrieb Red Kitten. Der Unterschied werde verwischt, um die »wirtschaftliche Dimension der Lager« und die Rolle »der Bourgeoisie und des Imperialismus« zu verschleiern.
Einer der führenden französischen Aktivisten des Netzforums, Mathias, legte wegen des Beitrags von Red Kitten seine Funktionen nieder. Die Formulierung vom »unproduktiven Charakter« der Vernichtungslager sei geschichtsrevisionistisch. Damit war aus dem Fall Khaled Ameyreh plötzlich ein Skandal geworden. Denn kaum ein Vorwurf wird in der französischen Linken ernster genommen als der des Geschichtsrevisionismus, vor allem wenn er im Kontext des Nahostkonflikts erhoben wird.
Das Thema berührt einen heiklen Punkt in der Geschichte der Linken in Frankreich, wo in den siebziger Jahren eine kleine Strömung innerhalb der so genannten Ultralinken - die Faschismus, »normalen« Imperialismus, bürgerliche Demokratie und Stalinismus gleichsetzt - den Holocaust leugnete. Der Sieg über Nazideutschland und die Befreiung der Konzentrationslager stellte aus Sicht der linken Revisionisten die einzige Legitimation der bürgerlichen Demokratien dar. Auschwitz zu relativieren oder zu leugnen, bedeute, die Demokratie zu delegitimieren. Einige dieser ideologischen Geisterfahrer sind später in der extremen Rechten gelandet. (Jungle World, 24/99)
Während des Krieges gegen den Irak kamen 1991 die Protagonisten dieser Ideologie wieder zum Vorschein. Allerdings wurden sie aus der damaligen Bewegung gegen den Golfkrieg ebenso hinausgeworfen wie später aus den Palästina-Solidaritätsvereinigungen. Ein offenes Medium wie Indymedia scheint solche Leute anzuziehen. Mehrfach wurden in jüngerer Vergangenheit Beiträge aus dem revisionistischen Umfeld veröffentlicht, und entsprechend hellhörig sind manche Linke geworden.
In Mails an die europäischen Indymedia-Plattformen kritisierte Mathias, dass seine ehemaligen Mitstreiter »eine geschichtsrevisionistisch argumentierende Person« in ihren Reihen duldeten. Wobei er vermutet, dass »Inkompetenz« dazu führe, dass revisionistische und antisemitische Beiträge nicht als solche erkannt würden. Darauf, dass es oft schwierig sei, dubiose Argumentationen zu entlarven, beruft sich z.B. der belgische Indymedia-Administrator Yannic Meerbergen. Oft fehle die Zeit, Texte auf einen möglichen antisemitischen Charakter zu untersuchen. Immerhin habe er Zeit gehabt, gleich mehrere Artikel von Khaled Amayreh aus dem Englischen zu übersetzen und ins Netz zu stellen, gab Mathias zurück.
Drei weitere Aktivistinnen aus dem kleinen Betreiberkollektiv - Massalia, Tatahari und Astara - haben inzwischen ihre Mitarbeit aufgekündigt. Massalia hatte die umstrittenen Beiträge an das autonome Antifakollektiv Scalp-Reflex in Paris sowie an die Association France-Palestine, eine Solidaritätsvereinigung aus dem KP-Umfeld, übermittelt. Beide erkannten eindeutig antisemitische Tendenzen und verurteilten ihre Veröffentlichung scharf. Das Kollektiv Scalp-Reflex kündigte jegliche Kooperation mit Indymedia auf. Die sechs übrig gebliebenen Indymedia-Leute warfen Mathias »Sabotage« vor.
Am vergangenen Donnerstag ging Indymedia-Frankreich tagsüber vom Netz, um gegen drohende neue Gesetze zur Zensur des Internets zu protestieren. Aber das Problem staatlicher Intervention ist derzeit bei Indymedia nicht das vordringliche. Das Restkollektiv sprach sich am Freitag dafür aus, den Laden erst einmal dicht zu machen, da die Grundlagen des Medienkollektivs bisher nicht tragfähig sind. Der Verlust dürfte sich in Grenzen halten.