Präsidentschaftswahl

Gute Freunde in der Not

Vor den Präsidentschaftswahlen in Brasilien verbündet sich selbst die oppositionelle Arbeiterpartei mit dem Establishment.

Viagra, Dachziegel, ein Gebiss, ein paar Sandalen, Führerscheine - vor den Wahlen, die Anfang Oktober stattfinden, läuft der verbotene Stimmenkauf wie immer auf Hochtouren. Besonders auf dem Land benutzen die Oligarchien immer dieselben Tricks, sogar Erpressung und Drohungen. »Die Clan-Kandidaten gebärden sich wie einst die Sklavenhalter«, sagt der Menschenrechtsanwalt Marcos Steiner Mesquita in der nordöstlichen Provinzhauptstadt Teresina. »Sogar Ärzte und Krankenschwestern müssen Wahlkampagnen unterstützen, oder sie werden gefeuert.«

Aus einem Slum am Rande der Stadt bekam er eine Anzeige. »Wenn ihr den nicht wählt, wird euch das Wasser abgestellt.« So hätten Wahlkämpfer eines rechtsgerichteten Kandidaten die Bewohner zu erpressen versucht. Leider seien gerade die ungebildeten Leute leicht manipulierbar. Und das sind nicht wenige unter den mehr als 115 Millionen Wahlberechtigten. Nur 26 Prozent der Brasilianer über 15 Jahren sind in der Lage, ein Buch zu lesen, sie konsumieren aber täglich die Wahlpropaganda im Radio und im Fernsehen.

Im Oktober wird nicht nur ein neuer Staatspräsident, es werden auch die Gouverneure der 26 Teilstaaten und des Bundesdistrikts Brasilia, Abgeordnete und Senatoren per Pflichtwahl bestimmt. Das Establishment will an der Macht bleiben. Das Kennzeichen dieses Wahlkampfs ist ein bislang nie dagewesener Zynismus der Kandidaten und Parteiführer. Erstmals ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei (PT), die stärkste Opposition gegen die Mitte-Rechts-Regierung, keine Ausnahme mehr; sie warf Grundsätze über Bord, verspielte deshalb Sympathien, gewann aber neue auf der bisherigen Gegenseite.

Der nach den jüngsten Umfragen chancenreichste Präsidentschaftskandidat, Luis Inacio »Lula« da Silva vom PT, tritt am 6. Oktober bzw. vorraussichtlich in der Stichwahl am 20. Oktober zum vierten Mal an. Die rechte Mehrheit der Parteiführung bestimmte den Milliardär Josè Alencar zu seinem kommenden Stellvertreter und schloss eine Wahlallianz mit dessen Rechts- und Sektenpartei PL (Liberale Partei), gegen den Willen der sozialdemokratischen Basis, die immer weniger Einfluss auf die Entscheidungen hat.

Der Senator Alencar besitzt die größte Textilunternehmensgruppe Brasiliens und ist stellvertretender Vorsitzender des nationalen Industriellenverbands. Er bewertet den Militärputsch von 1964 positiv, hasst die Landlosenbewegung MST und ist für den Exodus der Israelis aus dem Nahen Osten und die Neugründung Israels anderswo auf der Welt. Im Teilstaat Sao Paulo unterstützt der PL den rechten Gouverneurskandidaten Paulo Maluf, und im Amazonas-Teilstaat Acre einen Politiker, der Todesschwadronen unterhält, im nordöstlichen Alagoas Kandidaten ähnlicher Sorte. Zum PL zählen Bataillone von Sektenbischöfen, -predigern und Wunderheilern, die »Lula« stets als »Satanas« anprangerten. Jetzt betet er mit ihnen.

Anders als bisher versprochen, sollen die er-drückenden Außenschulden nach einem Wahlsieg des PT doch beglichen und die Privatisierung ehemals staatlicher Unternehmen nicht rückgängig gemacht werden. Banken- und Unternehmerverbände, bisher erbitterte Feinde des PT, sehen keine Divergenzen mehr. Das Regierungsprogramm der Partei will keinen Bruch mehr mit dem jetzigen ökonomischen Modell und fordert nur noch einen »humanisierten« Kapitalismus. Wegen des scharfen Kurswechsels diskutiert die Parteilinke den Austritt und die Gründung einer neuen Partei selbst für den Fall, dass Lula Staatschef wird. Auch die katholische Kirche, bisher weitgehend an der Seite des PT, distanziert sich. Und natürlich erinnert man sich merkwürdiger Positionen Lulas: »Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere, dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen.«

Der Präsidentschaftskandidat nähert sich auch den konservativen Militärs an und stellt den Arbeitsplatz-und Wirtschaftsboom unter General Emilio Medici, dem berüchtigten Präsidenten des Militärregimes, heraus. Ende August verbündete er sich sogar mit dem einstigen Erzfeind Josè Sarney, dem Vorsitzenden der Diktaturpartei Arena, ehemaligen Staatspräsidenten, einflussreichen Kongresssenator und tonangebenden Oligarchen im archaischen, gar noch von der Sklaverei geprägten Nordostteilstaat Maranhao.

Erschwerend kommt hinzu, dass der PT derzeit nicht nur im wirtschaftlich bedeutendsten Teilstaat Sao Paulo, sondern auch in Rio de Janeiro wegen enttäuschender Sozialpolitik und einiger Skandale stark an Ansehen verliert. Dort regiert die populistische PT-Gouverneurin Benedita da Silva, die einer christlichen Sekte angehört. Sie toleriert in den Slums die schwer bewaffneten, global vernetzten Verbrechersyndikate und Banditenmilizen als neofeudale Parallelmacht, die bis heute Schulen schließen, Ausgangssperren verhängen, Bewohner terrorisieren, zehntausende Slumkinder rekrutieren, missliebige Großfamilien aus ihren Hütten vertreiben und immer wieder Bürgerrechtler sadistisch ermorden. Für eine zweite Amtszeit hat Benedita da Silva nicht die geringsten Wahlchancen.

Ähnlich steht es um den PT-Gouverneurskandidaten Josè Genuino in Sao Paulo, denn die Amtsführung der Präfektin Marta Suplicy, ebenfalls vom PT, ist offenbar schädlich. Ihr wird vorgeworfen, vor allem zugunsten der Eliten zu regieren. Ihnen genehmigte sie im abgasverpesteten, entsetzlich lauten Sao Paulo noch einen kommerziellen Hubschrauberairport, obwohl die Stadt bereits über 220 private Landeplätze hat, 70mal mehr als New York. Millionen von Slumbewohnern bleibt dagegen nur der chaotische öffentliche Nahverkehr ohne Fahr- und Routenpläne an den Haltestellen.

Dennoch hätten die Eliten statt Lula am liebsten den ehemaligen Gesundheitsminister Josè Serra als Nachfolger des Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso. Beide gehören zur eher konservativen Zentrumspartei PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasilien). Den Umfragen zufolge liegt Serra auf Platz zwei; er wird von den Mitbewerbern für die überwiegend schlechte achtjährige Regierungsbilanz mitverantwortlich gemacht. Eine Rekordarbeitslosigkeit, sinkende Reallöhne und die immer ungerechter werdende Einkommensverteilung führten in den letzten Jahren zu einer spürbaren Verarmung. Für Sao Paulo, den größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, heißt das: Nur 3,46 Prozent der Einwohner genießen gemäß den Kriterien der Uno einen europäischen Sozialstandard, nur zehn Prozent den durchschnittlichen asiatischen. Doch über die Hälfte der Bevölkerung lebt unter ähnlichen Bedingungen wie sie in Afrika herrschen. Nicht zufällig wirft deshalb die Kirche den Eliten eine »fortexistierende Sklavenhaltermentalität« vor. Cardoso, Ehrendoktor der FU-Berlin, geht auch als Rekordhalter bei der Regenwaldvernichtung am Amazonas in die Geschichte ein.

Weil seine Wirtschaftspolitik das Land außerordentlich anfällig für spekulative Attacken und Währungskrisen machte, musste Brasilien mitten im Wahlkampf vom Internationalen Währungsfonds einen Kredit in Höhe von 30 Milliarden Dollar erbitten. Er zwingt der künftigen Regierung für die nächsten drei Jahre einen harten Sparkurs auf. Lula und Serra versprechen zwar enorme Investitionen im Sozialbereich und wollen mehr als acht Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Doch dafür wird das Geld fehlen.

Unter Cardoso nahm die Sklavenarbeit wieder zu, und in Brasilien wird auch weiterhin gefoltert. Vielerorts herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Allein im vergangenen Jahr wurden aus politischen und kriminellen Motiven mehr als 43 000 Menschen umgebracht, in den letzten acht Jahren über 300 000. Das sind deutlich mehr als in den Konfliktherden Kolumbien und Afghanistan oder im Nahen Osten.