Jacob Finci, Präsident der jüdischen Gemeinde Bosniens

»Bosniens Muslime sind Europäer«

In der Absicht, ihren Kampf für einen islamischen Gottesstaat auch in Europa fortzuführen, kamen afghanische und iranische Kämpfer schon in den neunziger Jahren nach Bosnien-Herzegowina. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden in dem traditionell weltlichen Land mehrere mutmaßliche Mujahedin festgenommen, die Sfor-Truppen verschärften ihre Sicherheitsmaßnahmen. Weitgehend verschont von den verbalen Attacken militanter Muslime blieb die kleine jüdische Gemeinde Bosniens. Mit ihrem Präsidenten, Jacob Finci, der auch an der Einrichtung einer Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild arbeitet.

Hat sich die Situation der jüdischen Gemeinde in Bosnien seit dem 11. September des letzten Jahres verändert?

Nein, denn wie Sie sehen können, brauchen wir vor unserem Gemeindehaus keinen Polizeischutz, keine Überwachungskameras oder sonstige Sicherheitsmaßnahmen, wie sie vor Synagogen in westeuropäischen Städten inzwischen leider üblich sind. Wir sind eine Gemeinde mit offenen Türen für jedermann. So war es vor dem 11. September, und so ist es auch danach.

Aber auch in Bosnien sind mutmaßliche Mitglieder der al-Qaida festgenommen worden, die Botschaft der USA musste aus Angst vor Anschlägen mehrfach geschlossen werden.

Der 11. September hat die amerikanische Gesellschaft auch in einem sehr viel größeren Ausmaß verändert als die europäischen Gesellschaften. In Bosnien leben wir seit mehr als 500 Jahren in einer konfessionell gemischten Gesellschaft, sodass wir sehr viel mehr Sympathie für den Islam aufbringen können, als es in manchen arabischen Ländern der Fall ist. Die Muslime hier sind originäre Europäer, die im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus zu Unrecht zu Feinden erklärt werden.

Schon während des Bosnien-Krieges sind Mujahedin ins Land gekommen, die die tolerante Auslegung, für die der bosnische Islam steht, in eine fundamentalistische Richtung zu drängen versuchen.

Deshalb hat die bosnische Regierung sofort nach den Anschlägen eine Sondereinheit geschaffen, die herausfinden soll, in welcher Weise diese radikalen Kräfte weiter aktiv sind. Es sieht aber so aus, als ob nur noch wenige Extremisten im Land sind.

Unabhängig davon ist das Leben in Bosnien weit davon entfernt, von jener Toleranz geprägt zu sein, die der Hauptstadt des Landes einst den Ruf eines »Jerusalem des Balkan« eintrug.

Es ist richtig, dass unsere Integrationsarbeit erst am Anfang steht. Aber auf lange Sicht wird es wieder möglich sein zusammenzuleben, da bin ich mir sicher - nicht Seite an Seite, aber gemischt, so wie wir das über Jahrhunderte getan haben. 1991 waren ein Drittel der Ehen in Sarajevo gemischt, das heißt, es muss weiterhin sehr viele Kinder aus muslimisch-katholischen, orthodox-muslimischen oder serbisch-kroatischen Ehen geben. Deshalb glaube ich zehn Jahre nach dem Kriegsbeginn auch nicht, dass die religiöse und die ethnische Zugehörigkeit heute noch die Rolle spielen, die sie 1992 spielten. Der Krieg war im negativen Sinne ein Höhepunkt, bei dem beides zur Barrikade zwischen den Gemeinden wurde.

Wie wollen Sie diese Barrikade aus dem Weg räumen?

Sie brauchen viel Zeit. Eines der größten Probleme dabei ist sicherlich die miserable ökonomische Situation. Wer keine Arbeit hat, macht in aller Regel jemand anders dafür verantwortlich, der Arbeit hat - seien es die Serben, die Kroaten oder wer auch immer. Erst vor einigen Tagen war ich in der Schweiz, wo die Heiratsrate zwischen deutschsprachigen, italienischsprachigen und französischsprachigen Schweizern nur zwei Prozent beträgt. Vielleicht liegt das ja nur daran, dass es nicht so leicht ist, Liebe mit einem Übersetzer zu machen. Ich glaube aber eher, dass das Zusammenleben in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten deshalb so friedlich geblieben ist, weil das Land wirtschaftlich so prosperiert. Angesichts dessen sagen sich die Leute, es ist besser, Schweizer zu sein als Deutscher, Franzose oder Italiener.

In Bosnien ist das nicht so, viele bosnische Serben fordern immer noch den Anschluss an Serbien-Montenegro, viele Kroaten in der Herzegowina wollen die staatliche Anbindung an Zagreb. Wie soll da etwas Gemeinsames geschaffen werden?

Nach jedem Krieg ist es so, dass die Gewinner die Geschichte neu schreiben. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina aber ist durch den Vertrag von Dayton von außen beendet worden und brachte keine Sieger hervor, sondern nur Verlierer. So kommt es, dass alle drei Parteien seit 1995 versuchen, ihre eigene Geschichte zu schreiben.

Das hat nicht nur zu einem dreigeteilten Bildungssystem geführt, sondern auch dazu, dass unseren Kindern in der Schule beigebracht wird, ihre Nachbarn seien immer noch ihre Feinde. Wie wollen Sie bei einer solchen Erziehung in 30, 40 Jahren etwas anderes erwarten als einen neuen Krieg?

Das heißt, eines der Hauptziele der von Ihnen eingerichteten Wahrheitskommission wird es sein, an einer gemeinsamen Geschichte Bosniens zu basteln.

Es geht zunächst einmal darum, durch Gespräche mit Überlebenden des Krieges und andere Formen der Datenerhebung Historikern die Möglichkeit zu geben, zumindest bei den Fakten zu einer Übereinkunft zu gelangen. Denn im Unterschied zu anderen Ländern, wo nach 50 Jahren die Archive geöffnet werden können, sind unsere Archive leer. Der letzte Krieg wurde nicht schriftlich dokumentiert, die Kommandos erfolgten über Funk und sind nicht rekonstruierbar. Außerdem haben Politiker und Militärs aus Angst vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag viele Dokumente zerstört. Daher ist alles, was uns bleibt, um zu einer historischen Wahrheit zu gelangen, die Erinnerung jener, die unter diesem Krieg gelitten haben. Und zwar auf allen drei Seiten.

Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass dieses Unterfangen gelingen kann?

Es ist in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Frankreich und Deutschland zur Versöhnung gekommen, zwischen Deutschland und Polen, weshalb soll das nicht auch im früheren Jugoslawien gelingen? Die Menschen, und seien es erst Historiker in 50 Jahren, sollen wissen, was hier wirklich passiert ist. Eine große Hilfe ist auch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, das ja die Aufgabe hat, die Verantwortlichen für die Kriege auf dem Balkan zur Verantwortung zu ziehen. Dennoch bleibt natürlich die Frage, was danach passieren soll. Schließlich haben viele Leute nicht aus innerer Überzeugung auf der einen oder der anderen Seite gekämpft, sondern weil es ihre Pflicht war.

Wie wollen Sie der Komplexität der Kriegsgründe in Ihrer Kommission gerecht werden?

Es kann nicht darum gehen, eine Gleichsetzung der Schuld zu betreiben oder gar die Opfer gleichzusetzen. Deshalb stellen diese auch die größte Zahl der Mitglieder in der Kommission. Es ist ebenso klar, dass die größte Zahl der Opfer Muslime waren, auch das hat seinen Niederschlag in der Zusammensetzung der Kommission gefunden.

Reichen Worte aus, um einen neuen Krieg zu verhindern?

Wenn wir nicht miteinander redeten, gäbe es in 20 Jahren einen neuen Krieg, weshalb uns auch nichts anderes übrig bleibt, als miteinander zu reden. Wir sind in Bosnien darauf angewiesen, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Denn so hilfreich die Truppen der internationalen Gemeinschaft, die hier stationiert sind, auch sein mögen, so wird die Präsenz doch nicht für immer dauern. Ohne Versöhnung zwischen den Bosniern wird es keine Zukunft und auch keine Stabilität für Bosnien geben.