Vor der Bundestagswahl

So viel Frieden war noch nie

Kurz vor der Wahl überholt Rot-Grün in den Umfragen die Union und die FDP. Vor allem die Ablehnung eines Krieges gegen den Irak beschert der Regierung den Aufschwung.

Über die existenziellen Fragen der deutschen Nation wird in Berlin entschieden und nirgendwo anders.« Bundeskanzler Gerhard Schröder redete Klartext am vorigen Freitag im Bundestag. Deutschland hat nämlich kein American Occupied Government, sondern eine sozialdemokratische Bundesregierung. Wieder einmal bewies der Kanzler, dass er bereit ist, die nationale Karte zu ziehen, wenn es ihm dienlich ist. Fast schon scheint es unfair, wenn die Sozialdemokraten Edmund Stoiber und die Union ermahnen, die Zuwanderung nicht zum Wahlkampfthema zu machen, während sie selbst derart hemmungslos dem Nationalismus frönen.

Schröder hat ohne Zweifel einen Coup gelandet. Er, der die Bundeswehr in den Krieg gegen Jugoslawien, in den »Krieg gegen den Terror« nach Afghanistan und in andere Weltgegenden schickte, präsentiert sich nun als Friedenskanzler. Die uneingeschränkte Friedenssehnsucht der Deutschen wird von Schröder ausgedrückt, nicht vom bayerischen Ministerpräsidenten. Warum es richtig war, Belgrad zu bombardieren, und warum es sich im Fall Bagdads verbietet, muss von der Bundesregierung nicht erklärt werden. Vielleicht weil Slobodan Milosevic nach einem Hufeisenplan vorging, der nie existierte, und Saddam Hussein sein Giftgas gegen die Kurden bereits eingesetzt hat?

In der Bundestagsdebatte war der Union anzumerken, wie schwer es ihr fällt, der Kampagne der SPD zu trotzen. Vor allem Stoiber zeigte sich unsicher wie zu Beginn des Wahlkampfes. Zwar kritisierte er zu Recht, Schröder ziehe »Kriegsszenarien hoch« und mache mit »antiamerikanischer Stimmung Wahlkampf«. »Wenn der Bundeskanzler so tut, als müsse er eine Frage beantworten, die in Wirklichkeit niemand stellt, dann täuscht er unser Volk!« sagte er. Doch seine Strategie, immer wieder auf die hohen Arbeitslosenzahlen zu sprechen zu kommen, ging nicht auf.

Laut der Süddeutschen Zeitung machte Stoiber »eine überraschend schlechte Figur«, »hektisch bis geifernd« habe er mit seinem »Bombardement von Vorwürfen« selbst die eigenen Leute gelangweilt. Das musste auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung einräumen. Manche Unionsabgeordnete »lasen während Stoibers Rede, andere schauten zur Seite, wenn sie die Hände zum Beifall rührten«.

Schröder nutzte die Schwäche seines Kontrahenten, um ihn zu demütigen. Mit einer Mischung aus »Aggressivität und Hilflosigkeit« komme man in schwierigen Situationen nicht weiter, sagte er im Plenarsaal. »Sie wollen vielleicht Kanzler werden, aber sie haben nicht die Fähigkeit dazu«, rief er Stoiber zu. Und schloss die Frage an, die sich seiner Meinung nach einige in der Union bereits stellten: »Wäre man mit Frau Merkel nicht vielleicht besser gefahren?«

Die derart instrumentalisierte Parteivorsitzende der CDU fuhr anschließend schwere Geschütze auf. Sie warf Schröder den »größten Betrug am Wähler in der deutschen Nachkriegsgeschichte« vor. »Von der uneingeschränkten Solidarität am 11. September 2001 zum uneingeschränkten Alleingang am 11. September 2002«, fasste sie die rot-grüne Außenpolitik des vergangenen Jahres treffend zusammen.

Zwei Tage zuvor hatte Friedrich Merz, der Fraktionsvorsitzende der Union, Schröder in der Passauer Neuen Presse gar den »Kronzeugen« Saddam Husseins genannt. Auch Wolfgang Schäuble, der außenpolitische Experte in Stoibers so genannten Kompetenzteam, kritisierte Schröder heftig. Er sagte in einem Interview mit der Berliner Zeitung, es bestehe die Gefahr, »dass Schröder durch sein ständiges Kriegsgerede und die Einengung des Spielraums der vereinten Nationen die Wahrscheinlichkeit, zu einer friedlichen Lösung zu gelangen, deutlich verringert«.

Doch die rot-grüne Koalition ließ sich von derlei Kritik im Wahlkampfendspurt nicht stoppen. Sie verrannte sich dabei nicht immer so, wie Ludwig Stiegler, der Fraktionsvorsitzende der SPD, der George W. Bush kurzerhand mit Julius Cäsar verglich. Joschka Fischer bekräftigte das Nein der Bundesregierung am vorigen Samstag vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) sachlich, aber entschieden. Die Bundesregierung sei »voll tiefer Skepsis«. »Wir wollen keinen Automatismus hin zur Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen«, betonte Fischer. Dass es dafür ein Lob vom irakischen Außenminister Nadschi Sabri gab - wen kümmert's?

Kritik an Schröder kam nicht nur aus der Union, sondern auch vom Bundeswehrverband und sogar aus den eigenen Reihen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Bundestagsausschusses, Hans-Ulrich Klose (SPD), meinte, eine »Druckkulisse« gegen das Regime im Irak sei nötig. Hussein werde keine UN-Waffeninspekteure ins Land lassen, nur weil jemand »bitte, bitte« rufe. Er versuchte auch, eine Hintertür für die Regierung offen zu halten, falls es zum Krieg kommt. Wenn »die Uno die Bundesrepublik Deutschland dazu auffordert, daran mitzuwirken, haben wir eine völlig andere Situation«, sagte Klose. Falls Deutschland überhaupt gebraucht wird. Und Schröder Kanzler bleibt.

Die Chancen für eine Verlängerung der rot-grünen Regierungszeit sind nach Schröders Friedensoffensive jedenfalls wieder gestiegen. Die SPD profitiert doppelt von ihrer antiamerikanischen Friedensrhetorik. Denn sie macht nicht nur der Union das Leben schwer, sondern auch der PDS. Der vermeintliche Pazifismus der Bundesregierung sei für die PDS inzwischen ein Problem, sagte der stellvertretende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter (PDS), der Berliner Zeitung. Der SPD gelinge es, der PDS die Rolle als Friedenspartei streitig zu machen.

Das ist allerdings weniger zu bedauern. Her mit der roten Fahne und ab auf die Antikriegsdemo, lautete die Strategie der demokratischen Sozialisten in den vergangenen Jahren. Die außenpolitischen Konzepte der PDS blieben dabei so naiv wie ihre Wahlplakate mit dem Motiv der Friedenstaube. »Immer wieder Nein zum Krieg« - oder lieber doch nicht mehr? Zur al-Qaida und zum islamistischen Fundamentalismus fiel der Partei bis heute nichts ein.

Für Edmund Stoiber dürfte die jüngste Entwicklung allerdings eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Seit dem »Wolfratshausener Frühstück« im Januar, als Angela Merkel den Verzicht auf ihre Kanzlerkandidatur bekannt gab, hoffte er auf seine Chance, und lange Zeit sah es für ihn gut aus. Sein Camouflage-Wahlkampf war erfolgreich. Er mimte den ernsten Mann in schwerer Zeit, der sich um die Arbeitslosigkeit, um den Mittelstand und die Zuwanderung sorgt. Verlässlich und »kantig« wollte er sein, den bayerischen Akzent und den forschen Angriff vermied er. Die SPD eilte derweil von einer Pleite zur nächsten. Es gab die Affäre um falsche Vermittlungszahlen der Arbeitsämter, den Kölner Müllskandal, die Telekomkrise und die Entlassung Rudolf Scharpings. Die Arbeitslosenzahlen stiegen, und die SPD versank im Umfragetief.

Doch nun scheint sich das Blatt noch einmal gewendet zu haben. »Es kommt nicht darauf an, wer zuerst losläuft, sondern wer als erster ins Ziel kommt«, sagte Schröder auf dem SPD-Parteitag im Juni in Berlin. Das klang nach Helmut Kohl in seinen besten Zeiten, nach dem Spruch: »Wichtig ist, was hinten rauskommt.« Kohl wird dem neuen Bundestag nicht mehr angehören, im Vergleich zu Schröder ist er eine Figur aus einer anderen Zeit, in der die transatlantische Partnerschaft noch zur Staatsdoktrin gehörte.

Schröders Weg ist dagegen der »deutsche Weg«. Nach einem Bericht der Berliner Zeitung soll er in vertrauter Runde gesagt haben, er wolle noch vier weitere Jahre regieren, »aber diesmal richtig«. Ob das ein Versprechen oder eine Drohung ist, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab.